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Sollte man Sterbenden die Wahrheit sagen?

Sollte man Sterbenden die Wahrheit sagen?

Jeder Mensch hat ein Recht darauf, zu erfahren, wie es um sein:ihre Gesundheit bestellt ist. Oder?

Der Umgang mit dem Tod ist nicht so einfach. Die meisten Menschen haben nie gelernt, wie man über das nahende Sterben sprechen und es verkraften kann. Wegdrücken, verheimlichen, nicht darüber sprechen, das sind häufige Strategien. Die führen aber leider zu nichts Gutem. Es kommt gar nicht so selten vor, dass Angehörige Sterbenden ihren Zustand verheimlichen wollen. Meist ist das gut gemeint, damit diese die Hoffnung nicht verlieren oder ihr Leben noch genießen können. Aber ihr wisst ja, dass „gut gemeint“ oft das Gegenteil von „gut“ ist. Sollte man Sterbenden die Wahrheit sagen? Ich finde: Ja, unbedingt!

5 wichtige Gründe, warum man Sterbenden die Wahrheit sagen sollte:

Grund 1: Die Wahrheit ermöglicht Gespräche und bringt Menschen zusammen

„Bitte, sagen Sie meinem Mann nicht, dass er sterben wird. Das würde er nicht verkraften“, flüstert die alte Frau, als der Hospizdienst kommt. Später sagt der Mann leise zur Hospizbegleiterin: „Ich weiß ja, dass ich sterben muss. Aber sagen Sie das meiner Frau nicht, das würde sie nicht verkraften.“

Von solchen Konstellationen hört man immer wieder und ich finde sie furchtbar traurig. Da versuchen Menschen, sich gegenseitig zu schützen, und nehmen sich die Chance auf offene Gespräche und echte Nähe. In diesem genannten Beispiel lässt sich das recht leicht aufklären. Aber wie oft mag es passieren, dass Menschen sich gegenseitig nicht belasten wollen und deshalb nicht miteinander sprechen, bis es zu spät ist?

Die letzte Lebenszeit eines Menschen ist unendlich intensiv, und zwar für die Sterbenden selbst und auch für die Zugehörigen. Das Sterben ermöglicht eine neue Offenheit, eine neue Nähe, eine neue Verbundenheit. Miteinander und umeinander zu weinen ist wichtig. Miteinander zu lachen und sich gegenseitig Mut zuzusprechen auch. Vielleicht muss auch noch etwas geklärt und ausgesprochen werden. Diese Möglichkeit gibt es aber nur, wenn Offenheit herrscht. Wenn alle Beteiligten die Wahrheit kennen und wissen, dass nicht mehr viel Zeit bleibt.

Grund 2: Die Wahrheit bietet die Möglichkeit zur Vorbereitung

Viele Menschen brauchen Zeit, um sich auf den nahenden Tod vorzubereiten.

  • Vielleicht sind noch letzte Wünsche offen, die man noch realisieren könnte.
  • Vielleicht möchte die sterbende Person sich noch mit jemandem aussprechen.
  • Vielleicht gibt es Dinge, die sie:er noch in Ordnung bringen will.
  • Vielleicht hat sie:er Wünsche, wo und wie sie:er sterben möchte.
  • Oder es gibt konkrete Vorstellungen zur Bestattung, über die gesprochen werden sollte.

All dies wird nur möglich, wenn wir Sterbenden die Wahrheit sagen. Wenn man ihnen verheimlicht, dass sie sterben werden, nimmt man ihnen diese wertvolle Vorbereitungszeit und damit ein selbstbestimmtes Sterben. Das ist einfach nicht in Ordnung.

Grund 3: Die Wahrheit ist die Basis für gute Palliativmedizin

Die Palliativmedizin ist ein echter Segen für Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Sie ermöglicht es fast allen Menschen, friedlich und ohne Qualen zu sterben und bis zuletzt eine möglichst hohe Lebensqualität zu bewahren. Gleichzeitig verkürzt die Palliativmedizin das Leben aber nicht, sondern kann es im Gegenteil sogar verlängern, und das bei einer höheren Lebensqualität.

Dafür folgt die Palliativmedizin aber etwas anderen Regeln als die kurative (also auf Heilung ausgerichtete) Medizin. Das Gespräch ist ganz entscheidend, um die Bedürfnisse der sterbenden Person zu erfahren. Dazu müssen alle die Wahrheit kennen.

In der Palliativmedizin überlegt man genau, welche Behandlungen und Untersuchungen jetzt sinnvoll sind und der sterbenden Person Vorteile bringen:

  • Eine Chemotherapie, die nur noch Qualen bringen, aber das Leben nicht verlängern würde, ist nicht sinnvoll.
  • Warum soll man ständig Blut abnehmen, wenn man gegen die schlechten Werte ohnehin nichts ausrichten kann?
  • Bei vielen Medikamenten kann man andere Dosierungen verwenden, wenn man nicht mehr auf mögliche Langzeitschäden oder Suchtgefahr Rücksicht nehmen muss.

Wie erklärt man das einem Menschen, der nichts von seinem nahenden Tod wissen soll? Eine gute Palliativmedizin ist nur möglich, wenn Offenheit herrscht. Ich habe sogar schon von Palliativärzt:innen gehört, die eine Behandlung abgelehnt haben, wenn die sterbende Person nicht informiert werden soll. Ich kann das nachvollziehen.

Grund 4: Die Wahrheit bestätigt Menschen in ihrem Gefühl

Viele Menschen spüren, wenn sie bald sterben werden. Der Körper wird immer schwächer, die Schmerzen werden größer und der Appetit schwindet. Schon lange vorher haben viele eine Ahnung, wenn das Sterben naht. Das ist ein gutes und gesundes Körpergefühl.

Sagt man ihnen nun aber ständig, dass sie ganz sicher wieder gesund werden, trauen sie diesem Gefühl nicht mehr. Sie wissen es irgendwo in ihrem Inneren, äußern es aber nicht. Das verursacht große Unsicherheit, die man Sterbenden ersparen kann, indem man ihnen die Wahrheit sagt.

Grund 5: Patient:innen haben ein Recht auf die Wahrheit

Das letzte Argument ist ein eher moralisches, aber deswegen nicht weniger wichtig: Jeder Mensch hat das Recht, über den eigenen Zustand Bescheid zu wissen. Niemand darf das Wissen darüber einfach verheimlichen. Wenn Ärzt:innen oder Zugehörige das trotzdem tun, empfinde ich das als ausgesprochen bevormundend.

Das Recht auf die Wahrheit ist tatsächlich auch juristisch festgelegt: Es gibt eine ärztliche Aufklärungspflicht über Erkrankungen und alle damit zusammenhängenden Konsequenzen und Behandlungsmöglichkeiten. Dazu gehört auch, dass Ärzt:innen Sterbenden die Wahrheit sagen müssen. Über eine Ausnahme von dieser Regel schreibe ich weiter unten im Text noch. Wichtig: Die Aufklärungspflicht gilt immer gegenüber den Patient:innen, nicht gegenüber den Angehörigen.

Nimmt man Sterbenden nicht die Hoffnung, wenn man ihnen die Wahrheit sagt?

Wenn man Sterbenden die Wahrheit sagt, dann nimmt man ihnen die Hoffnung, ist ein gängiges Argument. Dann kämpfen sie nicht mehr gegen die Krankheit und sterben schneller. Ist da etwas dran?

„Kampf gegen die Krankheit“ ist magisches Denken

Wir sollten uns zunächst einmal dieses „Kämpfen gegen eine Krankheit“ anschauen. Natürlich kann die Einstellung eines Menschen eine gewisse Rolle spielen. Man braucht einiges an Willenskraft und Kampfgeist, um (beispielsweise) Krebsbehandlungen hinter sich zu bringen und sich aus einem schlechten Zustand wieder nach oben zu kämpfen.

Aber dieser Kampf gegen die Krankheit wird von vielen Menschen maßlos überschätzt. Wenn eine Krankheit zu große Schäden anrichtet, dann stirbt man, ob mit oder ohne Kampf. Menschen sterben nicht, weil sie sich „aufgeben“, sondern weil eine Krankheit oder das Alter zu weit fortgeschritten sind.

Es gibt eine Phase, in der das Kämpfen sinnvoll ist und einen Unterschied machen kann. Aber es kommt auch der Zeitpunkt, an dem man einsehen muss, dass der Kampf nicht mehr zu gewinnen ist. An dem das Ruder nicht mehr herumzureißen ist. Und dann sollte man auch aufhören dürfen zu kämpfen und stattdessen die letzte Lebensphase so weit wie möglich genießen.

Es ist magisches Denken, dass jemand in einem palliativen Stadium noch einmal gesund werden kann, wenn sie:er nur weiter im Unwissen bleibt und ordentlich kämpft. Lassen wir die Menschen lieber selbst entscheiden, wie sie mit der Information ihrer eigenen Endlichkeit umgehen wollen.

Auch Sterbende haben Hoffnung

Ich widerspreche sowieso der Vorstellung, dass Menschen alle Hoffnung verlieren, wenn sie von ihrem eigenen Tod wissen. Natürlich gibt es Phasen der Hoffnungslosigkeit. Die gibt es aber auch in der „Kampfphase“.

Darüber hinaus haben aber auch Sterbende noch jede Menge Hoffnung:

  • Manche sagen sich „Jetzt erst recht!“ und ziehen gerade aus dieser Information die Kraft, allen das Gegenteil beweisen zu wollen.
  • Viele haben Hoffnung auf ein „gutes“, würdevolles und friedvolles Sterben und können jetzt noch einiges dafür tun.
  • Und oft hoffen sie darauf, einen bestimmten Zeitpunkt noch zu erleben. Weihnachten. Die Silberhochzeit. Den Frühling.

Die Hoffnung stirbt dem Sprichwort nach zuletzt. Ich denke, da ist viel Wahres dran. Wenn man Sterbenden die Wahrheit sagt, nimmt man ihnen die Hoffnung nicht. Man verschiebt sie nur in einer realistischen Weise.

Auf die Formulierung kommt es an

Ob man Sterbenden die Hoffnung nimmt, indem man ihnen die Wahrheit sagt, hängt natürlich auch stark von der Formulierung ab. Manchmal hört man, dass unempathische Ärzt:innen zu Patient:innen einfach trocken sagen: „Bei Ihnen ist nichts mehr zu machen, ich gebe Ihnen höchstens noch ein paar Wochen. Auf Wiedersehen.“ Das ist vernichtend und sollte so auf keinen Fall passieren.

Aber man kann die Wahrheit auch ganz anders verpacken. Zum Beispiel so: „Manchmal gibt es Wunder, die wir uns nicht erklären können und die Menschen am Ende doch wieder gesund machen. Wenn bei Ihnen ein solches Wunder nicht geschieht, wird Ihre Krankheit wahrscheinlich bald tödlich sein. Ich rate Ihnen, schon einmal Ihre Angelegenheiten zu regeln.“

So oder ähnlich formuliert bleibt genügend Basis für Hoffnung übrig und die Wahrheit ist trotzdem klar ausgesprochen. Natürlich gibt es hier noch viele weitere Möglichkeiten, die je nach dem Charakter der Patient:innen sehr unterschiedlich aussehen können.

Zwei Ausnahmen: Wann man Sterbenden NICHT die Wahrheit sagen sollte

Vom Recht auf Nicht-Information

Oben habe ich über die ärztliche Aufklärungspflicht geschrieben. Diese hat eine Kehrseite – das Recht auf Nichtwissen. Patient:innen können selbst entscheiden, ob sie über ihren Zustand informiert werden möchten oder nicht. Wenn eine Person ausdrücklich äußert, nichts über einen möglichen nahenden Tod erfahren zu wollen, dann muss das respektiert werden. Hier gilt allerdings nur die Meinung der:des Betroffenen selbst, nicht die der Angehörigen.

Wichtig ist in einem solchen Fall, hin und wieder nachzufragen, ob Patient:innen weiterhin nichts wissen wollen. Es kann sich bei einer solchen Aussage nämlich leicht um eine kurzfristige Reaktion der Verdrängung handeln.

Umgang mit besonderen Einzelfällen

Natürlich kann es manchmal Ausnahmen geben, in denen man einem Menschen tatsächlich vorübergehend den Ernst der Lage verschweigt.

Möglich ist zum Beispiel, dass jemand momentan psychisch extrem labil ist und man eine etwas stabilere Phase abwartet.

Auch bei schweren geistigen Beeinträchtigungen kann es im Einzelfall sinnvoll sein, (vorläufig) nichts zu sagen.

Demenzerkrankte Menschen zum Beispiel leben ab einem gewissen Maß der Erkrankung in ihrer eigenen Wirklichkeit, die sich von der tatsächlichen Realität sehr unterscheiden kann. Dinge, die in der Zukunft liegen, können sie nur schwer erfassen, geschweige denn darauf reagieren. Wenn das der Fall sein sollte, muss man überlegen, ob die Nachricht vom nahenden Tod sinnvoll ist.

Aber gerade in solchen Einzelfällen sollten Zugehörige sehr gut hinterfragen, ob das Verschweigen wirklich gerechtfertigt ist. Denn Menschen, die aus irgendwelchen Gründen geistig eingeschränkt sind, haben oft ein besonders gutes Gefühl dafür, ob man ehrlich mit ihnen umgeht. Gleiches gilt auch für Kinder, denen ich noch einen eigenen Absatz widme:

Sollte man sterbenden Kindern die Wahrheit sagen?

Beim Umgang mit sterbenskranken Kindern gilt für mich genau dasselbe wie für alle anderen Menschen: Sie sollten die Wahrheit kennen. So gerne wir sie vor Ängsten und Hoffnungslosigkeit schützen wollen, in diesem Fall ist Verschweigen keine gute Option.

Kinder sind sehr sensibel und merken, wenn die Erwachsenen ihnen etwas verheimlichen. Vielen macht das große Angst. Denn wenn schon die Erwachsenen nicht über das Thema sprechen wollen, dann muss es etwas sehr, sehr Schlimmes sein. Damit erschwert man Kindern die letzte Lebenszeit womöglich noch.

Viele Kinder versuchen in dieser Situation außerdem, ihre Eltern zu schonen. Sie wissen womöglich längst, dass sie sterben werden, aber sie merken auch, dass ihre Eltern nicht damit zurechtkommen. Das setzt die Kinder, die nun wirklich schon genug zu tragen haben, in eine völlig falsche Verantwortung ihren Eltern gegenüber.

Du bist noch unsicher und findest, bei Kindern sei das nun wirklich etwas anderes? Dann hilft dir vielleicht dieser Vergleich:

Angenommen, deinem Kind müsste – aus welchen Gründen auch immer – in einigen Wochen ein Bein amputiert werden. Würdest du ihm das verheimlichen? So tun, als wäre es nur ein kleiner Kontrollbesuch in der Klinik? Und es dann unvorbereitet in Narkose setzen lassen, aus der es mit nur einem Bein wieder aufwacht? Hoffentlich nicht.

Du würdest es vermutlich kindgerecht und liebevoll darauf vorbereiten, ihm die Hintergründe erklären, ihm Mut machen und deine Unterstützung versprechen.

Beim Sterben ist es nicht viel anders. Früher oder später merkt das Kind, was Sache ist. Und dann kommt zu all der Angst, den Schmerzen und der Unsicherheit auch noch das Gefühl hinzu, von den Eltern angelogen worden zu sein.

Stattdessen ist es gut und wichtig, auf kindgerechte Art offen und ehrlich zu sein. Wie das aussieht, kann im Detail sehr unterschiedlich sein. Wichtig ist, dass dein Kind weiß, dass du es selbst in dieser schlimmen Situation unterstützt, so gut du kannst.

Wie siehst du das? Findest du, man sollte in jedem Fall Sterbenden die Wahrheit sagen? Oder gibt es für dich Ausnahmen? Schreib es mir in den Kommentaren!

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich arbeite seit 16 Jahren in einem stationären Hospiz. Häufig bitten uns die Angehörige bei Aufnahme in unser Haus zu sagen ,nicht von einem Hospiz zu reden, sondern eher das es sich um eine Reha handelt.
    Im Gespräch wird erläutert , dass wir dieses nicht gutheißen, sondern sind für Ehrlichkeit.
    Die Angehörigen haben zunächst wenig Verständnis , nach 24 Std zeigen fast alle aber große Erleichterung und sind sehr dankbar .

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    • Danke für diese Erfahrung! Ja, dieses Geheimhalten ist natürlich auch für die Angehörigen großer Stress und eine enorme Belastung zu allem anderen dazu.

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  2. … die Thematik ist im weitesten Sinne kulturanhängig und von Fall zu Fall zu beurteilen. Mit Respekt in der Palliative Care, heißt es den Wunsch des Patienten/der Patientin zu respektieren, aber auch seiner eigenen Mission nicht untreu werden.

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    • Genau das schreibe ich ja. Der Wunsch der:des Patient:in ist für mich (fast) der einzige Grund, der gegen die Wahrheit spricht. Meistens sind es aber die Angehörigen, die es gerne anders haben wollen.

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