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Hospizbegleitung: Warum Frau H keine Zeit hat

Uhr und Text: Hospizbegleitung: Warum Frau H. keine Zeit hat

„Ich hab doch keine Zeit!“ Von einer interessanten Begegnung in der Hospizbegleitung.

Wie du vielleicht weißt, bin ich ehrenamtlich in der Hospizbegleitung tätig. Das bedeutet, dass ich schwerkranke und sterbende Menschen besuche, zu Hause, im Pflegeheim oder im Krankenhaus. Außerdem unterstütze auch die Zugehörigen dabei, ihre Liebsten in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten.

Vor einer Weile hatte ich da ein spannendes Erlebnis, von dem ich dir erzählen möchte.

Ich besuchte seit etwa zwei Monaten die 82-jährige Frau H., die mit einer verheerenden Krebsdiagnose aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Dort hatte man ihr noch wenige Tage prophezeiht, doch zu Hause, im Kreis der Familie, blühte sie noch einmal auf und lebte noch mehrere Monate. Einmal pro Woche kam ich für zwei oder drei Stunden vorbei, um den selbst schon recht tüddeligen Ehemann zu entlasten. Er werkelte dann eine Weile in der Küche oder im Garten herum und wusste, dass seine Frau nicht alleine war.

Manchmal reicht in der Hospizbegleitung schon das als Unterstützung aus. In dieser Begleitung ging es in erster Linie um die Zugehörigen, denn mit Frau H. selbst hatte ich gar nicht so viel zu tun. Meistens schlief sie tief und fest, in einer Art, bei der ich manchmal schon dachte, die nächste Atempause würde nicht mehr enden.

An diesem Tag jedoch war Frau H. wach und unwillig. Ihr Mann führte mich ins Zimmer und meinte: „Schau, du hast Besuch!“ Ihre unwillige Antwort war: „Ich hab doch keine Zeit!“ Sie wollte mich an diesem Tag nicht sehen, nicht mit mir reden und eigentlich gar nichts mit mir zu tun haben. Wir einigten uns dann darauf, dass ich mich einfach aufs Sofa am anderen Ende des Zimmers setzte, sie in Ruhe ließ und ein Buch las. Damit war sie einverstanden. Ich machte mich quasi unsichtbar, sie schaute aus dem Fenster und ihr Mann konnte in Ruhe seinen Tätigkeiten nachgehen. Und ich dachte über ihre Bemerkung nach. Im ersten Moment kam es mir sehr absurd vor, dieses „Ich hab doch keine Zeit“. Schließlich döste sie seit Wochen die ganze Zeit nur vor sich hin oder schaute aus dem Fenster, wenn sie nicht ohnehin schlief. Man sollte meinen, sie hätte mehr als genug Zeit für jede Art der Ablenkung.

Aber dann fiel mir auf, wie recht Frau H. hatte. Sie hatte tatsächlich keine Zeit mehr für Dinge, auf die sie keine Lust hatte. Sie wusste, dass sie bald sterben würde, und wollte ihre Zeit nicht mit lästigen Dingen verschwenden. An diesem Tag gehörte ich ganz eindeutig dazu. Und dann dachte ich mir, dass wir das eigentlich alle viel öfter machen sollten: Unsere Zeit so wenig wie möglich mit lästigen Dingen verschwenden. Und einfach mal sagen: „Dafür habe ich keine Zeit“. Selbst wenn wir in dieser Zeit einfach nur auf dem Sofa sitzen und eine Serie schauen oder aus dem Fenster gucken und dösen wollen.

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