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Wie ich mit 43 Jahren herausfand, dass ich ADHS habe

Titelbild: Scherenschitt eines Kopfes, Fäden und Puzzleteile deuten Verwirrung an.

Okay, das erklärt vieles: meine ADHS-Diagnose.

Dies wird der persönlichste Blogartikel, den ich je geschrieben habe. Und vielleicht wird es auch der wichtigste. Es geht um eine Erkenntnis, die mich mein ganzes Leben neu interpretieren lässt und vieles erklärt. Ihr wisst es ja schon aus dem Titel: Ich habe AD(H)S. Den Verdacht hatte ich schon ein Weilchen, bestätigt hat es sich in diesem Frühjahr. Und das hat mein Leben und mein Selbstbild ganz schön durcheinandergewirbelt. Aber von vorne:

Gar nicht so typisch für ADHS

ADHS, das haben nur Kinder und man erkennt es daran, dass sie nicht still sitzen können und ständig Blödsinn machen, oder? Dieses Bild kennen wohl die meisten Menschen. Und auch in meinem Kopf hatte es bis vor einiger Zeit dauerhaftes Wohnrecht. Obwohl ich in meinem Umfeld schon einige Menschen mit AD(H)S kannte und obwohl ich Grundschullehramt studiert habe (wo das Thema wenigstens mal an der Oberfläche gestreift wurde), hatte ich ein klares und ziemlich naives Bild: Die sichtbare Hyperaktivität und Unangepasstheit waren für mich die Hauptmerkmale von ADHS.

Ich war als Kind (und auch später) ganz anders. Immer ein bisschen seltsam, immer ein bisschen anders als die anderen, immer mit dem Gefühl, nicht so richtig zum Rest zu passen. Aber gut in der Schule, lieb und angepasst, jedenfalls bis zum Gymnasium. Da hatte sich das mit „gut in der Schule“ recht schnell erledigt. Und ein bisschen später auch das mit „angepasst“. Ich war als Kind vielleicht ein bisschen chaotisch, aber nicht in einem extremen Maß. Ich konnte mich gut alleine beschäftigen, habe viel gelesen und gebastelt und war gerne für mich. Von Hyperaktivität ist in der Rückschau nicht viel zu sehen. Von extremem Träumen (was ja Teil der Variante ohne Hyperaktivität wäre) auch nicht, jedenfalls nicht in der Schule.

Aber da gibt es dann eben doch eine ganze Reihe von Situationen, die in der Rückschau zeigen, wie sehr ich schon im Grundschulalter maskiert habe, um „lieb“ zu sein und nicht negativ aufzufallen. Und wie schwer mir vieles fiel, das für andere ganz normal zu sein schien.

So richtig auffällig war ich als Kind also nicht, aber so richtig „normal“ war ich eben auch nie. Nach einem Umzug und damit verbundenen Schulwechsel in der Grundschule wurde ich aus für mich völlig unerklärlichen Gründen zum Mobbingopfer und blieb es in jeder Gruppe von Gleichaltrigen bis etwa zum Alter von 16. Dann ließ es langsam nach, weil ich es irgendwie schaffte, mir durch sehr provokantes Verhalten den Lehrer:innen gegenüber Respekt zu verschaffen. (Ehrlich gesagt nehme ich es den meisten Lehrer:innen noch heute übel, dass sie damals nicht hinter die Fassade schauen und sehen konnten, wie schlecht es mir zu dieser Zeit ging.)

Mir ist damals vieles schwer gefallen, im sozialen, aber auch im schulischen Umfeld. Ich wusste nicht, wie man lernt, und konnte mich auch selten dazu aufraffen. Die Fächer, in denen es auf Verständnis und Zusammenhänge ankam (und die mich idealerweise auch noch interessierten), waren kein großes Problem. Aber überall da, wo ich kontinuierlich lernen musste und wo alte Lücken zum Problem wurden, wurschtelte ich mich verzweifelt irgendwie durch. Das Bild, das mein Umfeld von mir hatte (und das ich recht schnell für mich angenommen habe), war: Birgit ist eigentlich intelligent und könnte vieles richtig gut schaffen, wenn sie nicht so faul und unorganisiert wäre.

Läuft doch alles …

Schon in der Schulzeit habe ich begonnen, mich mit Lerntricks und Selbstmanagement-Strategien zu beschäftigen, leider ohne übermäßigen Erfolg. Dieses Interesse ist mir bis heute erhalten geblieben, wahrscheinlich aus einer gewissen Verzweiflung heraus.

Ich kenne jede Methode zum Thema Ordnung, Routinen, Selbstmanagement und Zeitmanagement, die es da draußen so gibt. Und ich habe sie alle ausprobiert, viele von ihnen mehrfach und in unterschiedlichen Varianten. Das Problem: Entweder ich komme gar nicht erst in die notwendigen Routinen hinein oder sie langweilen mich nach kurzer Zeit so sehr, dass ich ihre Existenz völlig vergesse.

Es fällt mir schon immer sehr schwer, mich zu organisieren, pünktlich zu Terminen zu erscheinen (und überhaupt erst daran zu denken), Papierkram zeitnah zu erledigen und Dinge zu Ende zu bringen. Umgekehrt bin ich extrem kreativ, folge gerne impulsiven Ideen, bin höchst empathisch und sehr begeisterungsfähig.

Trotz aller Schwierigkeiten: Ich habe Abitur geschafft, studiert und mich schließlich selbstständig gemacht. Ich führe eine tolle Beziehung und habe stabile Freundschaften mit wunderbaren Menschen. Haus und Garten sehen zwar nicht aus wie aus einer Lifestyle-Zeitschrift, aber wir versinken auch nicht im Chaos. Es läuft alles, so oberflächlich betrachtet.

Unter der Oberfläche habe ich aber Zeit meines Lebens das Gefühl, mit den normalsten Dingen des Lebens nicht gut genug zurechtzukommen. Irgendwie faul, chaotisch, undiszipliniert, lebensuntüchtig zu sein. Und aus unerfindlichen Gründen nie genug Energie für alles Notwendige zu haben. Ich habe das einfach für Charaktereigenschaften gehalten. Bis ich mich dann genauer mit dem Thema ADHS beschäftigen „musste“.

Vom Verdacht zur ADHS-Diagnose

In meinem direkten Umfeld gab es in den letzten Jahren mehrere ADHS-Diagnosen, und zwar bei Leuten, die ebenfalls nicht in das typische Bild passten. Ich begann also, mich genauer mit dem Thema zu beschäftigen, und mir ging ein Licht nach dem anderen auf.

Ich las Artikel und Bücher zum Thema, sprach stundenlang mit Betroffenen und folgte entsprechenden Accounts auf Instagram. Und ich stellte immer wieder fest, wie oft ich zustimmend nickte oder mir vor lauter Identifikation die Tränen in die Augen stiegen. Irgendwann war klar: Ich muss das abklären lassen. Schon, um mich nicht weiter in ein Problemfeld hineinzusteigern, dass ich – wie ich dachte – wahrscheinlich gar nicht habe.

Ich hatte das Glück, dass ich recht schnell eine Diagnose durchführen lassen konnte. Das ist alles andere als selbstverständlich und ich bin sehr dankbar dafür.

Je näher der Diagnosetermin kam, umso nervöser war ich. Es wäre zu diesem Zeitpunkt richtig, richtig schlimm für mich gewesen, wenn sich der Verdacht nicht bestätigt hätte. Alleine das sagt ja schon viel aus, denn wer wünscht sich schon eine neuronale Entwicklungsstörung?

Da ich so „unauffällig“ im Alltag bin und irgendwie ja doch alles Nötige auf die Reihe bekomme, war ich sicher, dass es auf der Kippe stehen würde. Dass die Tests, wenn überhaupt, nur ganz knapp positiv sein würden. Ich hatte Angst, am Ende würde doch herauskommen, dass ich einfach nur ungenügend wäre. So hat es sich jedenfalls angefühlt. Gleichzeitig hatte ich die Sorge, bei den Diagnosefragen zu sehr in Richtung ADHS zu antworten, sodass ich überkritisch mit mir selbst wurde. Es war kompliziert.

Und dann war die Diagnose plötzlich da. Nicht knapp, nicht mal ansatzweise. Sondern ganz klar und deutlich ADHS. Wow.

Was die ADHS-Diagnose für mich verändert

Ich kann gar nicht in Worte fassen, was die Diagnose für einen großen Unterschied für mich macht. Sie bedeutet, dass ich mein Selbstbild komplett revidieren muss und darf. Es stimmt nicht, dass ich faul und undiszipliniert bin und mir einfach nur noch mehr Mühe geben müsste, endlich erwachsen zu werden. Stattdessen bin ich wahnsinnig weit gekommen, trotz einer Problematik, für die ich in der Schule und bei Arbeitgeber:innen Nachteilsausgleiche beantragen könnte.

Die Diagnose kam im April. Jetzt, 8 Monate später, bin ich noch immer dabei, mich neu kennenzulernen. Festzustellen, welche Strategien ich tagtäglich benutze, ohne es so richtig zu bemerken, und wie viel Energie sie mich an vielen Stellen kosten. Mich dabei zu beobachten, wie häufig ich mich mehr oder weniger unauffällig bewege, strecke, mit irgendetwas spiele, Geräusche mache oder an meinen Haaren herumzupfe, um den Bewegungsdrang in den Griff zu bekommen. Mit der Traurigkeit umzugehen, dass ich 43 Jahre alt werden musste, bevor ich diese unglaublich wichtige Information über mich bekommen habe. (Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wenn ich das schon als Kind, Jugendliche oder junge Erwachsene gewusst hätte?) Und mich gleichzeitig zu freuen, dass ich jetzt viel besser dafür sorgen kann, meinen Bedürfnissen entsprechend zu leben. Es ist so wichtig und befreiend, dass ich nun endlich weiß, was mit mir „nicht stimmt“.

Und dann sind da natürlich noch die Medikamente. Vor zwei Monaten habe ich Methylphenidat verschrieben bekommen und nehme es immer dann, wenn ich Unterstützung brauche. Und, holy moly, macht das einen Unterschied! Es ist so erleichternd, wenn der Kopf zwischendurch mal ruhig ist und mir erlaubt, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Bin ich dadurch plötzlich „normal“ und unfassbar leistungsfähig? Ähm, nein 😀 Aber mir tut es sehr, sehr gut, zwischendurch einfach etwas vorwärtszubringen, ohne ununterbrochen gegen meine Widerstände zu kämpfen. Ich weiß, dass die Medikamente nicht für alle Betroffenen eine gute Lösung sind. Für mich aber sind sie ein echtes Geschenk.

Warum ich diesen Blogartikel überhaupt geschrieben habe

Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken, diesen Blogbeitrag über mein ADHS zu schreiben. Seit Monaten schleiche ich darum herum und traue mich nicht. Und ich weiß auch jetzt beim Schreiben noch nicht so genau, ob ich in absehbarer Zeit auf den „Veröffentlichen“-Button drücken werde. Denn ich mache mich damit sehr verletzlich. Ich gehe mit meinen Schwächen nach außen, die ich mein ganzes Leben lang verzweifelt verbergen wollte.

Und genau deswegen ist es so wichtig. Weil da draußen noch so viel mehr Menschen sind, die sich für inkompetent, chaotisch und faul halten, ohne zu wissen, warum sie so sind, wie sie sind. Und es ist auch deshalb wichtig, weil das Thema nun mal zu meinem Leben dazugehört und ich es nicht weiter verstecken will. Ich hatte schon immer ADHS. Ich wusste es nur nicht und mein Umfeld auch nicht. Es wird Zeit, dass sich das ändert.

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Wow, liebe Birgt,
    was für einen intimen und augenöffnenden Artikel durfte ich da gerade lesen!
    Sehr mutig und inspirierend. In vielen Formulierungen habe ich mich wiedererkannt. Das Gefühl des anders sein, begleitet mich auch seit Kind an. Und ja, es gibt so viele Strategien, die man im Laufe der Zeit anwendet um wieder zu passen. Letztlich ist man immer auf der Suche und ist bei jedem Scheitern enttäuscht. Bei mir geht es wohl in Richtung Hochsensibel. Leider habe ich da noch keine wirklich gute Unterstützung gefunden. Es gibt wohl wenige Psychologen oder Therapeuten die basierte Kenntnisse dazu haben. Und die breite Meinung dazu kannst du dir denken.
    Also habe das ich das Thema beiseite gelegt.
    Vielleicht werde ich es nach deinem Bericht doch nochmal angehen.
    Ich wünsche dir weiterhin Kraft und Gelassenheit und freue mich sehr für dich und deinen neuen Weg. Hey, denn stehenbleiben ist eigentlich keine Option.
    Danke für den Reminder.

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  2. Danke für den schönen Beitrag. Ich habe eine Freundin, die ADHS hat und ich finde einen offenen Umgang damit gut. Ich bin übrigens gerade über einen älteren Newsletter von Claudia Kauscheder bei dir gelandet. Ein gutes neues Jahr! 🙂

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    • Hallo Huberta,
      vielen Dank für deinen Kommentar! 🙂 Ich wünsche dir auch ein wunderbares neues Jahr! Und ja, ich denke auch, dass ein offener Umgang mit ADHS und auch anderen (psychischen) Problemen notwendiger ist denn je. Freut mich sehr, dass dir der Beitrag gefallen hat 🙂
      Viele Grüße
      Birgit

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