
ADHS hat viele Gesichter – das ist meins
Ich war nie der typische Zappelphillipp.
Ich habe den Unterricht nicht gestört, bin in der Schule gut mitgekommen, hatte keine Tobsuchtsanfälle (also, nicht mehr als jedes Durchschnittskind).
Ich war auch kein klassisches Träumerchen, das „in seiner eigenen Welt gelebt hätte. Jedenfalls nicht so sehr, dass es aufgefallen wäre.
Und trotzdem habe ich ADHS.
Irgendwie war ich immer anders. Nicht total auffällig, aber immer ein bisschen „verschoben“ im Vergleich zu Gleichaltrigen. Und die haben das deutlich gemerkt und mich spüren lassen, dass mit mir etwas nicht stimmt …
Dieser Artikel ist mein Beitrag zu meiner Blogparade „ADHS hat viele Gesichter – hier ist eins davon“.
Vielleicht bist du selbst ebenfalls ein solches Gesicht? Oder vielleicht lebst oder arbeitest du mit jemandem, der betroffen ist? Vielleicht hattest du mal eine Zufallsbegegnung, die deine Sichtweise auf Neurodivergenz geändert hat? Wenn ADHS dich auf irgendeine Weise bewegt, dann freue ich mich über deinen Beitrag!
ADHS kann ganz unterschiedlich aussehen. Es zeigt sich in vielen Farben, Lautstärken und Nuancen. Ein paar dieser Facetten aus meinem Leben mit (undiagnostiziertem) ADHS teile ich heute mit dir.
Pausenklingeln: „Von DIR hätte ich das nicht erwartet, Birgit!“
Ich muss in der zweiten Klasse gewesen sein. Eine ruhige, unauffällige, höfliche, kluge Schülerin, die vor allem bei den Lehrer*innen sehr beliebt war. Der Schulstoff bereitete mir keine Schwierigkeiten und auch mit den anderen Schüler*innen kam ich gut zurecht. Ich hatte ein, zwei engere Freund*innen und spielte ansonsten mal mit der einen und mal mit der anderen Gruppe. Wenn ich nicht sowieso am Rand stand, meinen Gedanken nachhing und den anderen zuschaute. Das machte ich am liebsten.
An diesem Tag spielte ich in der Pause mit zwei Jungs, die in der Klasse als „schwierig“ galten. Als Rüpel und Chaoten. Ich kann mich nicht erinnern, was wir gespielt haben, aber ich habe es friedlich und entspannt in Erinnerung. Wir saßen am Rand des Schulhofs an einem Gebüsch, bis plötzlich die Lehrerin vor uns stand und uns aufforderte, nun aber endlich nach drinnen zu kommen!
Da standen wir dann vor der Klasse, die beiden Rabauken und ich. Mehr als 10 Minuten zu spät.
„Von DIR hätte ich das nicht erwartet, Birgit!“, sagte die Lehrerin und ich wusste überhaupt nicht, was ich falsch gemacht hatte.
Turns out: Vor über 10 Minuten hatte die Klingel zum Ende der Pause geläutet. Über 300 Kinder waren aus allen Richtungen des Pausenhofs in Richtung Schulgebäude geströmt, um wieder in ihre Klassenzimmer zu gehen. Und ich hatte nichts, aber auch gar nichts davon mitbekommen. War so vertieft in unser Spiel, dass mir erst beim Auftauchen der Lehrerin auffiel: Der Hof war leer. Ich war noch eine ganze Weile lang ein wenig desorientiert, weil ich so plötzlich aus meinem Fokus herausgerissen wurde.
Und vor allem verstand ich den Anschiss nicht, den wir bekamen. Ich sollte erklären, warum ich nicht nach drinnen gekommen war, und das tat ich ja auch. Ich hatte eben nicht gemerkt, dass die Pause zu Ende war. Natürlich hat mir die Lehrerin das nicht geglaubt. Aber ich wusste nicht, was ich zu den „wirklichen“ Gründen hätte sagen sollen.
Diese Szene hat sich eingebrannt. Nicht weil ich „vergessen“ hatte, nach drinnen zu gehen. Sondern weil mir zum ersten Mal so deutlich gespiegelt wurde, dass mein Verhalten nicht zum Bild passte, das andere von mir hatten. Und ich konnte es nicht erklären.
Ich: faul, komisch, provokant, unordentlich, weinerlich
Immer wieder höre ich, man solle sich die Diagnose gut überlegen. Schließlich würde man sich (oder einem betroffenen Kind) damit ein „Label“ aufkleben, mit dem es dann leben müsse.
Nun ja, ich hatte seit meiner Jugendzeit Labels. Und zwar reichlich. Sie trugen zum Beispiel diese Aufschriften:
- „ist stinkend faul“
- „ist viel zu sensibel“
- „provoziert absichtlich“
- „müsste sich einfach mal anstrengen“
- „ist total chaotisch“
- „will immer auffallen“
- „verweigert sich“
- „ist unfähig“
Und irgendwann habe ich angefangen, mich genau so zu verhalten, wie mich alle gesehen haben.
Mit dem Übertritt ins Gymnasium war es vorbei mit dem Gut-in-der-Schule-sein. Während ich in der Grundschule quasi automatisch mitkam und mich nie besonders anstrengen musste, war jetzt strukturiertes Lernen und selbstorganisiertes Handeln angesagt. Wie das aber gehen sollte, wurde uns seltsamerweise nie so richtig beigebracht. Meine Noten rauschten in den Keller, ganz besonders in den Fächern, in denen ich mit Verstehen nicht weiterkam, sondern Vokabeln oder Jahreszahlen auswendig lernen sollte.
Das soziale Eingebundensein hatte schon ein Jahr vorher geendet: Durch einen Umzug kam ich in der vierten Klasse in eine neue Schule und wurde innerhalb von Tagen zum Mobbingopfer. Das blieb ich über viele Jahre hinweg auch und zwar in den unterschiedlichsten Bezugsgruppen. Ich war komisch und die anderen wurden nie müde, mich dafür abzustrafen.
Mein Ausweg war schließlich, genau diese Dinge zu bespielen. Dann war ich eben faul und zeigte den Lehrer*innen überdeutlich, wie egal mir ihr Stoff und ihre Hausaufgaben waren. Reinpassen wollte ich in diese bürgerliche Gesellschaft, die mich komisch fand, sowieso nicht. Ich wurde erst Punk, dann Goth und so provokant, dass ich einen Verweis nach dem nächsten kassierte (und feierte). Das wiederum fanden die Gleichaltrigen irgendwann cool und das Mobbing ließ nach.
Ich hatte Labels. Jede Menge. Nur das richtige war nicht dabei. Viele dieser abwertenden Zuschreibungen glaube ich tief in mir drin heute noch. Dabei war ich nie faul, nie unfähig, nie dumm oder provokant. Ich war immer nur eines: neurodivergent.
Mein Endgegner: die Bücherrückgabe
Als Kind und Jugendliche war ich Vielleserin. Ich las täglich, Stunden um Stunden. Alles, was ich in die Finger bekam. Kein Wunder also, dass ich in der Stadtbücherei ein- und ausging.
Hier fühlte ich mich wohl, entdeckte neue Themen, streunte zwischen den Regalen herum, genoss die Ruhe. War ganz bei mir. Ich liebte die Bücherei. Und ich fürchtete sie.
Denn eines gab es, das ich einfach nie auf die Reihe bekam: die Bücherrückgabe. Ich schaffte es nie, die Bücher rechtzeitig und vollständig zurückzubringen. Ich vergaß eines (oder mehrere) zu Hause, fand sie in meinem Zimmerchaos vorübergehend nicht wieder oder bekam es ganz einfach nicht auf die Reihe, rechtzeitig in der Bücherei zu erscheinen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Es war nicht so, als hätte ich die Bücherabgabe vergessen. Ganz im Gegenteil: Ich hatte ständig im Kopf, dass ich mich darum kümmern müsste. Nahm mir jeden Tag vor, die Bücher heute aber nun wirklich zurückzubringen. Und tat es dann doch nicht. Ohne dass ich die Gründe dafür wusste. Ich schaffte es einfach nicht und schämte mich dafür.
Je länger ich wartete, umso schwieriger wurde es. Denn dann musste ich nicht nur das Geld für die Mahngebühren aufbringen, sondern auch den strafenden Blick der Bibliothekarinnen auf mich nehmen. Es war furchtbar.
Aber kaum hatte ich die Bücher endlich abgegeben, streifte ich wieder durch die wunderbaren Räume, suchte neue Bücher aus und war mir sicher, dass ich es DIESMAL aber wirklich besser machen würde.
Das gleiche Phänomen kenne ich übrigens heute immer noch: beim Rücksenden von Waren, beim Bezahlen von Rechnungen, beim Beantworten von E-Mails und vielen anderen Gelegenheiten. Ich weiß, dass ich es tun muss. Ich will es auch tun. Aber trotzdem passiert es einfach nicht oder kostet mich absurd viel Kraft.
Ich wusste nie, wieso ich mich immer und immer wieder selbst sabotiere. Bis ich den passenden Begriff dazu kennenlernte: exekutive Dysfunktion, ein zentrales Symptom bei ADHS.
„Ich glaube eher nicht, dass Sie ADHS haben“
Mein Psychotherapeut, mit dem ich nach mehreren Schicksalsschlägen eine mittelprächtige Depression behandelte, war zunächst skeptisch, als ich ihn auf ADHS ansprach. Ich hatte mich in den letzten Monaten intensiv mit dem Thema beschäftigt, weil andere Familienmitglieder ihre ADHS-Diagnose bekommen hatten. Und je mehr ich las, desto klarer wurde mir: Vielleicht bin ich auch betroffen.
So richtig überzeugt war mein Therapeut also nicht, als ich ihn darauf ansprach. Aber er fragte nach und gab mir schließlich ein Buch mit Beispielfällen von Erwachsenen mit ADHS mit. Ich solle mal schauen, ob ich mich darin wiederfände.
Die erste Beschreibung handelte von einem Lehrer, der gut in seinem Job und beliebt bei Kindern, Eltern und Kolleg*innen war, aber an der Organisation des Ganzen fast verzweifelte. Ich las das und weinte dabei, so sehr erinnerte es mich an mein Referendariat. Die ständige Reizüberflutung, die 1000 To-Dos, Termine und Bedürfnisse, der viele Papierkram und nicht zuletzt die Unterordnung unter willkürlich agierende Schulräte und andere Vorgesetzte hatten mich damals an den Rand des Abgrunds gebracht.
Die nächste Therapiesitzung begann mit der Frage: „Und? Da finden Sie sich eher nicht wieder, oder?“ Ich atmete durch und begann zu erzählen. Am Ende dieser Stunde war klar: Wir müssen den Diagnoseprozess starten, denn es spricht tatsächlich sehr vieles dafür, dass ich ADHS haben könnte.
Die Testergebnisse sprachen dann eine sehr deutliche Sprache. Ich habe ADHS. Hatte es immer. Und ich hatte in meinen 43 Lebensjahren so gut gelernt, die Besonderheiten und Einschränkungen zu verbergen, dass sie nicht mal meinem Therapeuten sichtbar wurden.
Es begann das Umlernen, das Neu-Interpretieren, das Anders-Verstehen meines ganzen Lebens. Ein ziemlich harter, aber auch wunderbarer Prozess. Und – Überraschung – genau das war auch der Gamechanger, durch den die letzten Reste von depressiven Symptomen verschwanden.
Ich und mein ADHS heute
Zwei Jahre nach meiner ADHS-Diagnose bin ich eine andere. Oder besser gesagt: Ich bin endlich die, die ich schon immer war.
Ich verstecke mich nicht mehr, sondern rede ganz offen über mein ADHS, meine Besonderheiten, Stärken und Schwächen.
Ich lasse mir viel weniger vorschreiben, was „man“ so zu tun hat. Ich weiß, dass für mich viele Dinge anders funktionieren.
Ich verstehe mich besser und verurteile mich nicht mehr so hart.
Und ich nehme ADHS-Medikamente, die mir meinen (Arbeits-)Alltag unglaublich erleichtern Ich bin durch sie nicht „normal“, nicht neurotypisch. Aber für ein paar Stunden am Tag kann ich mich halbwegs darauf verlassen, dass mein Gehirn mich nicht ständig ausbremst. Das hat so viel Ruhe und Zufriedenheit in mein Leben gebracht!
Ich bin noch längst nicht fertig mit meinem Prozess. Aber ich bin mehr bei mir selbst als je zuvor.
Ich spüre sehr deutlich, dass die Welt mehr neurodivergente Stimmen braucht. Und dass neurodivergente Menschen mehr Unterstützung brauchen. Deshalb arbeite ich an einem Online-Kurs für spätdiagnostizierte ADHSler*innen. Wenn ich dich darüber auf dem Laufenden halten soll, trage dich gerne hier in die Warteliste ein.
Abschluss: „Das ist doch kein ADHS-Symptom!“
Vielleicht hast du dir beim Lesen des einen oder anderen Absatzes gedacht: „Das ist doch kein ADHS-Symptom! Das hat doch jede*r!“
Dazu möchte ich dir 3 Dinge sagen:
- Die meisten ADHS-Symptome sind keine komplett ungewöhnlichen Verhaltensweisen. Entscheidend sind Intensität, Häufigkeit und Leidensdruck. Jede*r musste schon mal Mahngebühren bezahlen. Aber wenn so was ständig passiert und noch zig andere „Kleinigkeiten“ dazukommen, dann wird es auffällig. Und anstrengend. Sehr.
- Wenn du dich in all diesen Beschreibungen wiederfindest und denkst: „Ist doch normal, oder?“, dann lohnt es sich vielleicht, genauer hinzuschauen. Könnte sein, dass du auch zum Club gehörst.
- „Das ist doch kein ADHS-Symptom, das hat doch jede*r“ ist Punkt 5 in meinem ADHS-Bullshit-Bingo, das du dir hier kostenlos herunterladen kannst. Dort erkläre ich noch genauer, was an dieser (und 15 weiteren) Aussagen nicht stimmt. Viel Spaß damit!