
ADHS-Glossar: 50+ Begriffe rund um ADHS
Ein ADHS-Glossar schwebt mir schon seit langer Zeit vor. Schließlich gibt es unzählige Begriffe, die ich gerne schon früher gekannt und verstanden hätte. Hier ist es nun, das ADHS-Glossar, in all seiner Unperfektheit.
Bei meinen ersten Notizen zum Blogartikel kamen mehr als 110 Begriffe zusammen. Beim Schreiben habe ich aber sehr schnell gemerkt, dass ich streichen muss, wenn der Artikel jemals veröffentlicht werden soll. Diese erste Version enthält deshalb „nur“ knapp 60 Begriffe, soll aber im Lauf der Zeit ergänzt werden.
Das ADHS-Glossar erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder wissenschaftlich-medizinische Korrektheit. Ich bin keine Ärztin, keine Therapeutin oder Wissenschaftlerin. Ich schreibe aus Erfahrung. Aus eigener Betroffenheit, unzähligen Gesprächen, intensiven Recherchen, eigenen Aha-Momenten und persönlichen Stolpersteinen. Deswegen findest du bei vielen Begriffen nicht nur die nackte Erklärung, sondern auch Anekdoten und meine persönliche Haltung.
Vielleicht entdeckst du dich in manchen Beschreibungen wieder. Vielleicht liest du etwas und denkst: „Ach, DESHALB bin ich so!“ Genau dafür habe ich das Glossar geschrieben. Also: Lies quer, lies selektiv und lies neugierig. Nimm mit, was dir hilft, und lass den Rest liegen. Was übrigens immer ein guter Rat ist.
AD(H)S
ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Da nicht bei allen Betroffenen eine stark ausgeprägte, sichtbare Hyperaktivität vorliegt, klammert man das H manchmal ein. Früher hat man zwischen ADHS (mit Hyperaktivität) und ADS (ohne Hyperaktivität) unterschieden, das ist heute aber nicht mehr üblich. Man teilt ADHS jetzt stattdessen in verschiedene Subtypen ein. Hier habe ich die Frage „Was ist ADHS?“ im Blog ausführlicher (aber natürlich längst nicht abschließend) beantwortet.
ADHS-Bullshit-Bingo
Wenn man ADHS hat und damit offen umgeht, hört man jede Menge falsche Behauptungen, Vorurteile und Irrtümer über die ADHS. Oder, wie ich es nenne: ADHS-Bullshit. Das fängt an bei „Du siehst gar nicht aus, als hättest du ADHS“, geht weiter mit „ADHS-Medikamente sollen Kinder nur ruhigstellen“ und endet bei „Mach dir doch mal eine Liste!“. Als es mir irgendwann zu bunt wurde, habe ich aus diesen falschen und unangebrachten Reaktionen ein ADHS-Bullshit-Bingo gestaltet, das du dir hier für 0 Euro herunterladen kannst.
ADHS-Paralyse
Wer ADHS hat, kennt die Situation, dass man es einfach nicht schafft, sich vom Sofa zu erheben oder aus dem Auto auszusteigen. Egal, wie dringend wir etwas machen müssten und egal, wie sehr wir es auch tun wollen, manchmal geht es einfach nicht.
Das sieht von außen aus, als würden wir faul herumsitzen. Tatsächlich dreht sich aber in unserem Kopf alles darum, dass wir nun ENDLICH aufstehen müssen. Aber es ist wahnsinnig schwer, das umzusetzen. Dahinter steckt eine Störung der exekutiven Funktionen, als der „Steuerungszentrale“ im Gehirn, die für die Planung und Umsetzung von Aufgaben zuständig ist.
Weit verbreitete Varianten sind zum Beispiel die Auto-Paralyse (aus dem geparkten Auto aussteigen) oder die Duschparalyse (in die Dusche gehen bzw. aus der Dusche wieder herausgehen). Ich persönlich finde es wahnsinnig schwierig, nach Pausen wieder mit dem Arbeiten zu beginnen. Und: Ich bade sehr gerne, liege aber oft viel länger im Wasser, als ich möchte, weil ich mich nicht zu den Nach-Bade-Aufgaben aufraffen kann.
ADHS-Steuer / ADHS-Tax
ADHS kostet Geld. Richtig viel Geld. Angefangen von Mahngebühren und verlorenen Gegenständen über Zuzahlungen für Medikamente oder andere Behandlungen bis hin zu verpassten Veranstaltungen oder Kosten für Alltagskatastrophen. Viele weitere, sehr frustrierende Beispiele findest du hier im Blogartikel „20+ Gründe, warum ADHS teuer ist“. Die ADHS-Community spricht bei diesem Phänomen von ADHS-Steuer, ADHS-Tax oder (wenig schmeichelhaft) Cripple Tax.
ADS
Früher unterschied man zwischen ADHS (mit Hyperaktivität) und ADS (ohne Hyperaktivität). Heute fasst man beides unter dem Oberbegriff AD(H)S zusammen und unterscheidet nur noch die unterschiedlichen Subtypen. ADS entspricht am ehesten dem unaufmerksamen Typ, dem „Träumerchen“ oder „Hans-Guck-in-die-Luft“.
Andersartigkeit
Sehr viele ADHSler*innen kennen das bedrückende Gefühl, undefinierbar anders zu sein. Tatsächlich ist das gar nicht so verkehrt. Man kann die Funktion eines ADHS-Gehirns mit einem anderen Betriebssystem vergleichen. Es folgt in vielen Bereichen etwas anderen Regeln als das Standard-Betriebssystem der meisten Menschen. Wahrscheinlich kommt es daher, dass sich neurodivergente Menschen untereinander häufig auf den ersten Blick tief verstehen.
Angststörungen
Angststörungen gehören zu den vielen Comorbiditäten, die mit ADHS einhergehen können. Das Risiko einer Angsterkrankung ist für ADHSler*innen deutlich höher als für andere Menschen, ganz besonders wenn das ADHS nicht erkannt und behandelt wird.
Dafür gibt es viele Gründe, einen davon spüre ich sehr deutlich am eigenen Leib: Die innere Unruhe, die mit ADHS fast immer einhergeht, fühlt sich für mich sehr ähnlich an wie Angst. Deshalb bin ich viele Jahre lang mit dem Grundgefühl von Sorge, Angst und Gefahr herumgelaufen. Bei mir hat sich das zum Glück nicht stark manifestiert, aber ich kann sehr gut nachempfinden, dass das leicht passieren kann. Für mich waren bei diesem Problem ADHS-Medikamente ein Game-Changer: Weil der Kopf durch die Medikamente ruhiger wird, lässt auch dieses unterschwellige Bedrohungsgefühl deutlich nach. Für mich persönlich eine der wichtigsten Verbesserungen.
Aufmerksamkeit / Unaufmerksamkeit
Wie der Name schon sagt, hat ADHS mit Aufmerksamkeit zu tun. Allerdings heißt das nicht, dass ADHSler*innen mit ihrem Verhalten Aufmerksamkeit suchen würden. Dieser Irrglaube ist leider immer noch weit verbreitet.
Wahr ist dagegen: Menschen mit ADHS haben Probleme, ihre Aufmerksamkeit zu bündeln, auf eine bestimmte Sache zu richten und dort zu halten. Das hat nicht nur häufig Probleme in Schule oder Beruf zur Folge, sondern kann sich auf alle Lebensbereiche auswirken. Es fällt uns zum Beispiel sehr schwer, bei einer bestimmten Aufgabe zu bleiben oder in lauter Umgebung einem Gespräch zu folgen.
Übrigens: Unaufmerksamkeit ist eines der drei Hauptsymptome von ADHS. Die anderen beiden sind Hyperaktivität und Impulsivität.
Autismus-Spektrums-Störung
Bis vor wenigen Jahrzehnten galt noch: Wer ADHS hat, kann keine Autismus-Spektrums-Störung (ASS) haben und umgekehrt. Inzwischen weiß man, dass die beiden Neurodivergenzen sehr, sehr oft zusammen auftreten. Man spricht dann gerne von AuDHS.
Wenn ADHS und Autismus gleichzeitig auftreten, macht das die Sache noch mal deutlich komplizierter:
1. Nach außen hin können die Symptome der beiden Störungen unauffälliger werden, weil sie sich ein Stück weit gegenseitig aufheben. Die Diagnose ist also umso schwieriger.
2. Im Inneren sorgt die Kombi aus ADHS und ASS dagegen für Chaos Deluxe. ADHS braucht Abwechslung, ASS braucht Routinen und beides ist vom jeweils anderen Anteil nur sehr schwierig zu liefern. Die Folge ist oft eine heftige Zerrissenheit.
3. Für ADHS gibt es medikamentöse Behandlung, für ASS nicht. Manche Betroffene machen die Erfahrung, dass durch die ADHS-Behandlung die Autismus-Symptome vermehrt in den Vordergrund treten und ihrerseits Probleme verursachen.
Allerdings kann die Kombination beider Neurodivergenzen auch positive Effekte haben, indem sie die jeweiligen Symptome tatsächlich teilweise eindämmt.
Behandlung
ADHS kann nicht „geheilt“, aber durchaus behandelt werden. Dazu gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, zum Beispiel Psychoedukation, Psychotherapie, Coaching, Selbsthilfegruppen, die Anpassung des Lebensumfeldes oder Medikamente.
Nicht alle Betroffenen brauchen eine intensive Behandlung. Schon das Wissen um die eigene Besonderheit kann deutliche Besserung bringen. Klar ist aber: Wenn ADHS lange Zeit unerkannt und unbehandelt bleibt, kann das sehr negative Folgen haben. Zum Beispiel steigt die Gefahr für Depressionen, Suchterkrankungen, Angststörungen und viele weitere ernsthafte Erkrankungen an.
Ich bin deshalb der Überzeugung, dass ADHS noch viel mehr getestet und behandelt werden sollte. Momentan sind die Möglichkeiten dafür aber sehr begrenzt.
Behinderung
Je nach Ausprägung kann ADHS eine große Belastung bis hin zu einer handfesten Behinderung sein. Tatsächlich kann man bei ausgeprägten Symptomen einen Grad der Behinderung beantragen, besonders dann, wenn noch weitere Probleme vorliegen.
Ich finde es sehr wichtig, ADHS nicht nur als Superkraft oder neutrale Abweichung zu sehen, sondern auch die teils sehr belastenden Probleme im Alltagsleben in den Blick zu nehmen. Trotzdem wäre es auch zu kurz gegriffen, ADHS ausschließlich als Behinderung zu sehen. Es ist eine Neurodivergenz, die gute und schlechte Eigenschaften mit sich bringt. Die Verteilung kann jedoch sehr unterschiedlich sein und viele Betroffene sind durch die ADHS-Symptome so stark in ihrem Alltagsleben eingeschränkt, dass sie ihre Stärken kaum auf die Straße bringen. Dann ist Behandlung und Unterstützung unbedingt erforderlich.
Body Doubling
Body Doubling bedeutet, dass eine andere Person anwesend ist, wenn man bestimmte Aufgaben erfüllt. Für viele ADHSler*innen ist dieser kleine Alltagstrick eine große Hilfe bei der Umsetzung von Plänen und Aufgaben.
Ich mag zum Beispiel Coworkings sehr gerne, bei denen man sich virtuell mit anderen Menschen trifft und dann jeder seinen eigenen Aufgaben nachgeht. Body Doubling ist es aber auch, wenn man sich zum Beispiel mit einer Freundin zum gemeinsamen Putzen verabredet. Es kann schon helfen, wenn einfach nur jemand im Raum ist, ohne mit anzupacken. Ein faszinierendes Phänomen, das ich bisher nicht so richtig ergründet habe. Aber es hilft oft.
Comorbiditäten
ADHS kommt selten allein, deshalb ist es so wichtig, dass es möglichst frühzeitig erkannt wird. Es gibt eine ganze Reihe von psychischen und körperlichen Erkrankungen, die begleitend auftreten können oder für die das Risiko erhöht ist (ganz besonders bei unerkanntem ADHS). Zu diesen Comorbiditäten (= Begleiterkrankungen) gehören zum Beispiel Autismus, Depressionen, Angsterkrankungen, Zwangsstörungen, Tic-Störungen, Schlafstörungen, Suchterkrankungen, Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, Hypermobilität, Menstruationsbeschwerden, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Rechenschwäche, Nahrungsmittelallergien, Schuppenflechte, Reizdarmsyndrom, Fibromyalgie und das Restless-Leg-Syndrom. Diese (unvollständige) Liste macht überdeutlich, dass ADHS viel mehr ist als nur ein Problem mit der Konzentration.
Coping
Die meisten ADHSler*innen haben über die Zeit unzählige Bewältigungsstrategien entwickelt, um mit ihren Besonderheiten umzugehen. Das nennt man Coping.
Copingstrategien können Alltagshilfen zur Organisation sein wie Kalender, Listen, Gamification-Apps, visuelle Timer, Techniken zur Aufgabenstrukturierung etc. Auch Sport, bewusste Ernährung, Entspannungsübungen, Journaling, künstlerischer Ausdruck und ähnliche gesunde Gewohnheiten können zum Coping gehören. Dazu kommen viele kleine, teils von außen absurd anmutende Gewohnheiten, zum Beispiel Body Doubling.
Allerdings gibt es auch ungesunde Copingstrategien, zum Beispiel Rückzug, Ablenkung durch Bingewatching oder Doomscrolling sowie Selbstmedikamentierung mit Genuss- und Suchtmitteln. Ziel einer Psychoedukation und Behandlung ist es, möglichst viele gesunde Coping-Strategien zu entwickeln.
Depression
Dass ich mit 43 Jahren meine ADHS-Diagnose bekommen habe, lag vor allem an einem sehr engagierten und weltoffenen Psychotherapeuten. Bei ihm war ich in Behandlung wegen einer Depression. Mit diesem Problem hatte ich im Lauf der Zeit immer wieder zu kämpfen und das ist auch kein Zufall:
ADHSler*innen haben ein deutlich erhöhtes Risiko, an Depressionen zu erkranken, vor allem dann, wenn das ADHS lange nicht erkannt und behandelt wurde. Diese und viele weitere Comorbiditäten lassen sich in vielen Fällen vermeiden oder reduzieren, wenn rechtzeitig Maßnahmen getroffen werden.
Deshalb reagiere ich inzwischen auch so empfindlich, wenn ADHS verharmlost oder als Modediagnose abgetan wird. Zum Weiterlesen: Hier beschreibt Gaby ihre Geschichte mit ADHS und Depressionen.
Desorganisation
Menschen mit ADHS fällt es sehr schwer, sich zu organisieren. Dahinter steckt eine Störung in den Exekutivfunktionen des Gehirns, also all den Fähigkeiten, die unser Handeln und Denken steuern.
Deshalb vergessen wir so oft Termine. Deshalb fällt es uns schwer, Ordnung zu halten. Deshalb kommen wir oft unpünktlich. Und deshalb ist es für uns schwierig, Aufgaben zu priorisieren, zu strukturieren und schließlich umzusetzen.
Das heißt (wie bei allen Symptomen) nicht, dass wir uns gar nicht organisieren könnten. Die meisten von uns haben unzählige Tricks und Strategien, die uns gut durch den Alltag bringen. Was aber bleibt: Wir brauchen für all diese Dinge deutlich mehr Energie und Aufmerksamkeit als andere Menschen. Und die fehlt anderswo.
Diagnose
Eine ADHS-Diagnose ist für viele Menschen absolut entscheidend für ein gutes Selbstbild, für den Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten und für die Reduktion von Comorbiditäten. Ich habe meine Diagnose mit 43 Jahren bekommen und sie hat richtig viel geändert.
Diagnosen können an unterschiedlichen Stellen durchgeführt werden: in spezialisierten Diagnostikzentren, in psychiatrischen Praxen und manchmal auch bei Psychotherapeut*innen. Allerdings ist das längst nicht so einfach, wie es klingen mag.
Problem Nummer 1: Diagnoseplätze sind sehr schwer zu bekommen und oft mit extremen Wartezeiten verbunden.
Problem Nummer 2: Nicht alle Diagnostikstellen sind gut. Manchmal trifft man auf Fachpersonen, die absolut nicht auf dem neuesten Stand der Forschung sind. Dann hört man selbst von ihnen Sätze, die man auch in meinem ADHS-Bullshit-Bingo finden könnte …
Problem Nummer 3: Eine Diagnose anzustreben und durchzuführen ist mit sehr vielen organisatorischen Aufgaben verbunden, die ADHSler*innen naturgemäß schwerfallen. Deshalb fallen gerade diejenigen besonders leicht durchs Netz, bei denen die Symptome stark ausgeprägt sind.
Beim Thema Diagnose (und auch beim Thema Behandlung) liegt vieles sehr übel im Argen, da kann man leider nichts beschönigen. Es lohnt sich trotzdem, dranzubleiben!
Dopamin
Dopamin ist eines der „Glückshormone“ im menschlichen Körper. Es ist unter anderem zuständig für das Belohnungszentrum im Gehirn und sorgt für Motivation und Aufmerksamkeit. Bei ADHS spielt ein gestörter Dopamin-Haushalt eine entscheidende Rolle. Das Dopamin wird einerseits schlechter produziert und andererseits schneller abgebaut als bei neurotypischen Menschen. Das trägt zu vielen der typischen Symptome bei, zum Beispiel zu Konzentrations– und Motivationsproblemen, Impulsivität und exekutiven Dysfunktionen.
Elternschaft mit ADHS
Ich sage es euch, wie es ist: Elternschaft mit ADHS ist wirklich next level. Unter anderem deshalb, weil die Chance hoch ist, dass auch die Kinder ADHS bekommen. Und das kann schnell zu einer echt explosiven Mischung werden. Nur ein paar Stichworte dazu:
Menschen mit ADHS neigen zu impulsiven Reaktionen. Es fällt ihnen extrem schwer, Routinen zu folgen und sich zu organisieren. Langeweile und Routinen kann sich für sie körperlich schmerzhaft anfühlen. Sie sind leicht reizüberflutet und können zum Beispiel nicht immer gut mit Berührung umgehen. Und sie haben oft eine reduzierte Frustrationstoleranz, gerade wenn es um Ablehnung oder Kritik geht. Im Kindesalter kommen oft noch Schulprobleme und andere Anpassungsschwierigkeiten hinzu, Erwachsene haben durch die fehlende Behandlung nicht selten mit Comorbiditäten oder Traumata zu tun.
Und jetzt stell dir vor, dass mehrere solcher Personen aufeinandertreffen. Für viele Menschen (gerade für Frauen) treten die ADHS-Symptome in dieser Situation erst so richtig in Erscheinung. Hier beim Stern beschreibt eine Mutter, wie das für sie war.
Emotionalität
Viele Menschen mit ADHS haben Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren. Gefühle können sehr plötzlich auftreten, stark schwanken und generell sehr intensiv sein. Das hat – wie viele Aspekte von ADHS – gute und schlechte Seiten.
Einerseits ist es wahnsinnig anstrengend und nicht selten auch belastend für Beziehungen aller Art, wenn Gefühle explodieren. Aber andererseits haben viele ADHSler*innen eine sehr hohe Empathiefähigkeit, sind außerordentlich begeisterungsfähig, können kindlich staunen und sehr tief lieben.
Erwachsenendiagnose / Spätdiagnose
Lange Zeit dachte man, dass ADHS nur bei Kindern auftreten und sich mit der Pubertät „verwachsen“ würde. Inzwischen ist klar, dass das in den meisten Fällen nicht stimmt. Das neurodivergente „Betriebssystem“ im Gehirn bleibt erhalten. Allerdings lernen viele Jugendliche und Erwachsene im Lauf der Zeit, besser damit umzugehen.
Im besten Fall kommen sie damit gut zurecht und brauchen im Erwachsenenalter keine Unterstützung mehr. Aber in sehr vielen Fällen bleiben die Probleme im Hintergrund bestehen, oft so gut maskiert, dass die Betroffenen sie selbst nicht mehr in ihrer vollen Ausprägung wahrnehmen. Viele Erwachsene fallen erst dann auf, wenn sie mit anderen Problemen Hilfe suchen, zum Beispiel mit einer Depression oder Suchterkrankung.
Seit einigen Jahren ist es möglich, dass auch Erwachsene diagnostiziert und behandelt werden können. Deshalb werden zur Zeit besonders viele Menschen (vor allem Frauen*) „nachdiagnostiziert“, die schon seit vielen Jahren unter den ADHS-Symptomen leiden.
Ich habe die späte Diagnose (in meinem Fall mit 43 Jahren) als sehr wichtig und bereichernd empfunden und ich weiß, dass es vielen anderen Betroffenen auch so geht. Trotzdem hoffe ich, dass es in Zukunft viel weiter verbreitet sein wird, ADHS-Diagnosen schon im Kindesalter zu stellen. Denn unerkanntes und unbehandeltes ADHS ist wirklich kein Spaß, das kann ich euch versichern.
Exekutive Dysfunktion
Unter exekutiven Funktionen versteht man die Fähigkeit des Gehirns zum Planen, Priorisieren, Strukturieren, Entscheiden, Anfangen, Dranbleiben und Abschließen der unterschiedlichsten Aufgaben. Und genau diese Fähigkeiten sind bei ADHS eingeschränkt. Die Schaltzentrale funktioniert nicht so richtig. Das heißt nicht, dass wir nicht wüssten, was zu tun ist. Wir wissen es meistens sogar sehr genau, aber es ist wahnsinnig schwierig, mit der Planung und Umsetzung zu beginnen. Sehr viele Symptome und Besonderheiten von ADHS lassen sich auf diese exekutive Dysfunktion zurückführen.
Fidgeting
Als Jugendliche habe ich immer Bierdeckel und Taschentücher bis zur Unendlichkeit zerkleinert und in meinem Elternhaus gibt es seit Jahrzehnten keinen einzigen Kugelschreiber, der noch diesen typischen Clip hat. Was das mit ADHS zu tun hat? Jede Menge. Fast alle ADHSler*innen, regulieren sich über Fidgeting, also über das Herumspielen mit den unterschiedlichsten Gegenständen. Auch Nägelkauen, Haaredrehen, Knöchelknacken oder Fußwippen kann zum Fidgeting gehören. Fidgeting ist eine weitverbreitete Coping-Strategie, die die Konzentration verbessern und die Hyperaktivität sozialverträglich ableiten kann. Aber auch dabei ist es gar nicht so einfach, gesunde und möglichst nicht störende Varianten zu finden.
Frauen* und ADHS
Lange Zeit galt ADHS als typische Jungenkrankheit. Inzwischen weiß man, dass das ein kapitaler Irrtum war.
Die Häufigkeit von ADHS scheint bei allen Geschlechtern ähnlich zu sein. Allerdings herrscht bei Frauen und weiblich gelesenen Personen der unaufmerksame „Träumerchen“-Subtyp vor, der nach außen hin weniger nervtötend ist als die Jungs-typische hyperaktive Form. Deshalb (und auch weil Mädchen und Frauen ohnehin über die Jahrhunderte in der medizinischen Forschung eine maximal untergeordnete Rolle gespielt haben) werden Mädchen deutlich seltener diagnostiziert und behandelt. Frauen* fallen (wenn überhaupt) später auf, zum Beispiel wenn sie Mutter werden oder in die Wechseljahre kommen. Beides kann die Symptome nämlich drastisch verschlimmern. Zur Zeit werden viele Frauen und nichtbinäre Menschen mit ADHS nach-diagnostiziert, was längst überfällig war.
Frustrationstoleranz
Bei vielen ADHSler*innen ist die Frustrationstoleranz, sagen wir mal, nicht ganz optimal ausgeprägt. Gemeint ist die Fähigkeit, mit Rückschlägen, Misserfolgen, Kritik oder auch Wartezeiten umzugehen. Auf solche Dinge reagieren wir manchmal übermäßig stark.
Das liegt vor allem an unserem ständig überreizten Nervensystem und an der intensiveren Verarbeitung von Reizen und Emotionen. Und ein bisschen auch daran, dass kleine und große Alltagskatastrophen bei uns viel häufiger vorkommen als bei anderen Menschen.
Gamification
Eine meiner wichtigsten Coping-Strategien ist Gamification. Alles was sich nach Spiel anfühlt, macht Aufgaben leichter. Deshalb nutze ich unterschiedliche Apps, aber auch selbstgestaltete Tricks, um Spielaspekte in meinen Alltag zu bringen. Hier habe ich schon einmal einen Blogartikel über Gamification beim Schreiben verfasst.
Genetik
Woher kommt ADHS eigentlich? Die wichtigste Rolle spielt tatsächlich die Genetik, auch wenn noch ein paar andere Ursachen dazukommen können. Anders ausgedrückt: Wenn du selbst ADHS hast, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es noch weitere ADHSler*innen in deiner Familie gibt. Und wenn dein Kind (oder dein Bruder oder deine Nichte …) gerade seine ADHS-Diagnose bekommen hat, dann lohnt es sich, auch bei dir selbst mal genauer hinzuschauen.
Hans Guck-in-die-Luft
Im Struwwelpeter (dem furchtbarsten Kinderbuch aller Zeiten) gibt es nicht nur die ADHS-typische Geschichte vom Zappel-Phillipp. Auch Hans Guck-in-die-Luft hat einige typische Verhaltenweisen von AD(H)S, genauer gesagt vom unaufmerksamen Subtyp. In der Geschichte geht es um einen Jungen, der so abgelenkt und mit den eigenen Gedanken beschäftigt ist, dass er auf dem Weg zur Schule ins Wasser fällt. Das nur für den Fall, dass mal wieder jemand erwähnt, früher hätte es AD(H)S-Symptome nicht gegeben …
Hobbyfriedhof
Hier eine unvollständige Auswahl der Interessen, denen ich meine Weile mit größter Begeisterung nachgegangen bin und die ich inzwischen nicht mehr oder fast nicht mehr verfolge:
Sticken, Sockenstricken, Glasgravur, Origami, Poi spielen, Tischtennis, Parkours, Wildkräuter sammeln, Nature Journaling, Filzen, Reiten, Sketchnotes, Nähen, Pralinen herstellen, Kalligraphie, Aquarell.
Der Hobbyfriedhof (inklusive der Ausrüstung, die in der Anfangsbegeisterung natürlich gekauft werden musste) ist den meisten Menschen mit ADHS schmerzlich bekannt. Oh, und der Hobbyfriedhof ist auch einer von vielen Gründen, warum ADHS so teuer ist (Stichwort „ADHS-Steuer„).
Hochsensibilität / Hochsensitivität
Es ist schon etwa 20 Jahre her, dass ich die Begriffe Hochsensibilität und Hochsensitivität entdeckt und mich darin sehr wiedergefunden habe. Das Phänomen bezeichnet Menschen, die besonders feinfühlig und intensiv auf Reize aller Art reagieren. Ähnlich wie beim Phänomen der Scanner-Persönlichkeit bin ich auch hier der Überzeugung: Sehr viele Menschen, die sich unter dem Label „hochsensibel“ wiederfinden, haben in Wirklichkeit ADHS. Oder eine Autismus-Spektrums-Störung.
Hyperaktivität
Hyperaktivität gehört zu den Kernsymptomen bei ADHS, auch weil sie am deutlichsten nach außen sichtbar wird. Das typische Bild von Hyperaktivität ist ein Kind, das ständig aufsteht, ununterbrochen redet, mit dem Stuhl kippelt, in Bewegung ist. Ein Zappelphillipp.
Hyperaktivität ist aber nicht immer so deutlich zu sehen. Auch Menschen mit dem eher unaufmerksamen ADHS-Subtyp (früher ADS) haben Formen von Hyperaktivität. Allerdings dringt diese kaum nach draußen, sondern spielt sich vor allem im Kopf ab. Gedankenkreisen, innere Unruhe, Überforderungsgefühle und der Drang, ständig etwas tun zu müssen, können Ausprägungen von Hyperaktivität sein.
Eine der Coping-Strategien bei Hyperaktivität ist Fidgeting, also die Verlagerung des Bewegungsdrangs auf kleine, weniger störende Bewegungen und Beschäftigungen.
Hyperfokus
Im Großen und Ganzen können sich Menschen mit ADHS nicht gut konzentrieren. Aber dann gibt es wiederum Situationen, in denen wir voll bei der Sache sind und unter Umständen mit Haut und Haaren und bis zur Selbstaufgabe in einem Thema versinken. Dieses Phänomen nennt sich Hyperfokus. Er tritt dann auf, wenn wir uns (aus welchem Grund auch immer) gerade besonders stark für eine Sache interessieren. Im Extremfall führt ein Hyperfokus dazu, dass ADHSler*innen in ihrer Über-Konzentration selbst Essen, Trinken und Toilettengänge vergessen. Es gibt aber auch mildere Formen.
Besonders perfide: Weil wir uns manchmal ja doch konzentrieren können, wird das Grundproblem oft lange Zeit nicht erkannt. Es kann nach außen hin so aussehen, als würde ein Kind einfach nur „nicht wollen“ oder wäre faul, wenn es sich für etwas nicht interessiert. Mit einer solchen Einschätzung tut man Betroffenen bitter unrecht.
Leider ist der Hyperfokus kaum zu steuern und schon gar nicht bewusst zu initiieren. Sollte uns das jemals gelingen, dann übernehmen ADHSler*innen die Weltherrschaft, davon bin ich fest überzeugt.
Impulsivität
Impulsivität beziehungsweise mangelnde Impulskontrolle gehört zu den Kernsymptomen von ADHS. Gemeint ist, dass Handlungen oft direkt und ohne groß nachzudenken in die Tat umgesetzt werden. Im Alltag kann sich das sehr unterschiedlich äußern, angefangen von Unterbrechungen im Gespräch über Impulskäufe bis hin zu extremen Spontanentscheidungen (Jobwechsel, Umzug, Trennung, Hauskauf, …). Der Hintergrund: Auch die Impulskontrolle hängt eng mit den exekutiven Funktionen im Gehirn zusammen und genau die funktionieren bei ADHS nicht richtig.
Konzentration
Konzentration bedeutet, die Aufmerksamkeit auf eine Sache zu richten und dort auch zu halten. Und ADHS bedeutet, dass wir unsere Aufmerksamkeit nur schwer steuern können. Wen wundert es also, dass wir uns nur schwer auf eine Sache konzentrieren können.
Allerdings gilt das nicht immer: Gerade bei selbstgewählten Aufgaben, die uns begeistern, kann unsere Konzentrationsfähigkeit sogar übermäßig groß sein. Man spricht dann vom Hyperfokus.
Masking
ADHS-Verhaltensweisen sind leider sehr häufig nicht mit einem entspannten Miteinander und der einen oder anderen gesellschaftlichen Norm vereinbar. Wir bekommen also von Kindheit an sehr, sehr viele Maßregelungen und negative Rückmeldungen dafür. Viele Menschen versuchen deshalb (oft unbewusst), ihr Verhalten an gesellschaftliche Erwartungen anzupassen und möglichst „normal“ zu wirken.
Dieses Masking (in Kombination mit den unterschiedlichsten Coping-Strategien) ist einer der Gründe dafür, warum man lange Zeit dachte, Erwachsene hätten kein ADHS mehr. Tatsächlich sind die meisten erwachsenen ADHSler*innen nur besser in der Lage, ihre Symptome zu maskieren.
Masking ist eine Überlebensstrategie, die allerdings enorm viel Energie kostet. Und im Extremfall vergisst man dabei, wie man im tiefsten Inneren wirklich ist.
Medikamente
ADHS-Medikamente helfen, den Dopamin– und Noradrenalinspiegel im Gehirn zu stabilisieren und damit für eine begrenzte Zeit die ADHS-Symptome zu mildern. Für mich persönlich war die Medikation ein echter Game-Changer.
Leider sind ADHS-Medikamente noch immer mit vielen Vorurteilen und Abwertungen verknüpft. Das (und die unzureichende Zugänglichkeit von Diagnose- und Behandlungsplätzen) sorgt dafür, dass immer noch vielen Betroffenen diese Hilfe verwehrt wird. Mich ärgert das wirklich maßlos.
Natürlich sind Ritalin und Co. keine Gummibärchen und natürlich muss im Einzelfall gut geprüft werden, ob die Medikamente nötig, hilfreich und sicher sind. Aber das unreflektierte Verteufeln dieser Behandlungsform sollte wirklich dringend aufhören.
Übrigens: Medikamente machen uns nicht „normal“. Und sie sind auch kein Ersatz für Strategien oder Selbstfürsorge. Aber sie können die Grundlage dafür schaffen, dass diese Strategien überhaupt wirken können.
Modediagnose
Schon in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts hieß es, ADHS sei eine Modediagnose, ein Hype oder sogar eine Erfindung der Pharmaindustrie. In den letzten Jahren, in denen ADHS vermehrt diagnostiziert wird und sich Betroffene mehr und mehr öffentlich dazu äußern, werden die gleichen Rufe laut. ADHS sei ein Tiktok-Hype und dadurch „würde jeder irgendwas davon bei sich selbst wiedererkennen“, habe ich erst vor Kurzem wieder gehört.
Deshalb noch mal sehr klar: ADHS ist keine Modediagnose, es wurde nur über viel zu lange Zeit in der medizinischen Forschung unterschätzt. Es gibt eine ganze Reihe guter Gründe, warum das Thema im Moment so präsent ist. Hier habe ich sie genauer beschrieben.
neurodivergent / neurodivers / neurotypisch
ADHS ist eine Form der Neurodivergenz, also eine Abweichung in der Gehirnfunktion. Dieser Begriff ist zunächst einmal völlig wertfrei. Zu einer Störung wird ADHS nur dann, wenn es für Leidensdruck sorgt, was leider sehr häufig der Fall ist. Weitere Neurodivergenzen sind zum Beispiel Autismus, Tourette und Dyslexie.
Das Gegenteil von neurodivergent ist neurotypisch. Dieser Begriff bezeichnet also Menschen, bei denen keine Neurodivergenz vorliegt.
Übrigens, weil ich es selbst auch immer wieder verwechsle: Eine einzelne Person kann neurodivergent oder neurotypisch sein. Eine Gruppe oder Gesellschaft hingegen kann neurodivers sein. Das bedeutet, dass Menschen mit unterschiedlichen neurobiologischen Profilen vertreten sind.
Reizüberflutung
In meiner Wahrnehmung ist die Welt eigentlich immer zu laut, zu hell, zu wuselig und zu intensiv. Kein Wunder: ADHS ist auch eine Reizfilterstörung. Das bedeutet, dass alle Reize – Geräusche, Licht, Bewegungen, Gespräche, Gedanken, Gerüche, Gefühle, … – gleichzeitig auf das Gehirn einprasseln. Das ADHS-Gehirn filtert einen viel geringeren Teil dieser Reize heraus als ein neurotypisches Gehirn. Und es sagt uns auch nicht so deutlich, was davon wichtig ist und was nicht. Deswegen sind viele ADHSler*innen so leicht reizüberflutet und erschöpft. Und das ist auch einer der Gründe, warum wir uns schwerer konzentrieren können. Schließlich lenken dauernd irgendwelche Reize unsere Aufmerksamkeit ab. Übrigens: Reizempfindlichkeit kann auch ein Symptom einer Autismus-Spektrums-Störung sein, die häufig gemeinsam mit ADHS auftritt.
Scanner-Persönlichkeiten
Ähnlich wie beim Thema Hochsensibilität habe ich mich auch im Begriff der Scanner-Persönlichkeiten lange Zeit wiedergefunden. Scanner*innen haben viele wechselnde Interessen und es fällt ihnen schwer, über längere Zeit an einer Sache zu bleiben.
Auch wenn es vielleicht eine etwas unpopuläre Meinung ist: Ich bin der festen Überzeugung, dass sehr viele Scanner*innen in Wirklichkeit ADHS haben und es nur noch nicht wissen.
Selbstdiagnose
Das Thema ADHS-Selbstdiagnose erhitzt immer wieder die Gemüter. Versuchen wir uns zu nähern:
Es gibt immer mehr Menschen, die (noch) keine offizielle ADHS-Diagnose haben, aber sich trotzdem der ADHS-Community zugehörig fühlen. Natürlich sind darunter auch einige, bei denen sich der Verdacht später nicht bestätigt. Bei sehr vielen fällt dann aber zu einem späteren Zeitpunkt eine offizielle Diagnose tatsächlich positiv aus.
Es wäre großartig, wenn all diese Menschen sich einfach einer guten Diagnose unterziehen könnten und dann Bescheid wüssten. Wäre das möglich, wäre das Thema Selbstdiagnose sehr viel kleiner. Aber so ist es leider nicht. Es ist wahnsinnig schwer, einen Diagnoseplatz zu bekommen.
Und: Gerade bei Erwachsenen geht der Diagnose fast immer eine Phase der potenziellen Selbstdiagnose voraus. Man beschäftigt sich intensiv mit dem Thema und kommt schließlich zu dem Schluss, dass man selbst betroffen sein könnte. Für manche reicht diese Erkenntnis schon aus, um sich selbst zu verstehen und ihre Symptome besser in den Griff zu bekommen. Andere streben früher oder später eine offizielle Diagnose an. Es gibt also bei aller Skepsis sehr gute Gründe dafür, wenn Menschen sich selbst als ADHSler*innen bezeichnen, obwohl sie (noch) keine offizielle Diagnose haben.
Selbstmedikation
Selbstmedikation bedeutet, dass Menschen versuchen, ihre Symptome eigenständig zu regulieren. Oft wissen sie dabei gar nicht, dass es eigentlich um ADHS geht. Selbstmedikation kann mit Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Zucker, Cannabis oder Beruhigungsmitteln geschehen, aber auch mit Verhaltensweisen wie Zocken, Social Media, exzessivem Arbeiten oder Essen. All das schüttet Dopamin aus, das das ADHS-Gehirn so dringend braucht. Allerdings können diese Formen der Selbstmedikation natürlich jede Menge Schaden anrichten.
Schulprobleme
Viele Kinder mit ADHS (besonders solche mit dem hyperaktiv-impulsiven Subtyp) fallen in der Schule durch schlechte Noten oder unangepasstes Verhalten auf. Aber nicht alle Betroffenen haben ernsthafte Schulprobleme. Viele kommen ganz passabel oder sogar mit guten Noten durch die Schulzeit, weil sie ihre Defizite durch Intelligenz, Coping-Strategien oder die Hilfe von außen ausgleichen können. Trotzdem kann auch bei diesen Kindern der Leidensdruck durch die ADHS-Symptomatik enorm sein.
Subtypen
ADHS gibt es in drei unterschiedlichen Geschmacksrichtungen:
- Der überwiegend hyperaktiv-impulsive Subtyp ist das, was man sich landläufig unter ADHS vorstellt. Die Betroffenen haben großen Bewegungsdrang und neigen dazu, ohne Nachzudenken zu reden und zu handeln.
- Der überwiegend unaufmerksame Subtyp hieß früher ADS. Hier stehen Konzentrations- und Organisationsschwierigkeiten im Vordergrund, die Hyperaktivität ist nicht so stark ausgeprägt oder wird nach außen hin nicht sichtbar. Deshalb werden Betroffene mit diesem Subtyp besonders häufig übersehen.
- Und schließlich gibt es noch den kombinierten Typ, der Aspekte der anderen beiden Subtypen zeigt, also quasi das ADHS-Gesamtpaket bekommen hat.
Letzten Endes sind die Subtypen aber auch nur grobe Kategorien. Welche Kombination aus Symptomen und Schwierigkeiten auftritt, ist individuell sehr unterschiedlich.
Sucht
ADHSler*innen haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Suchterkrankungen. Das hat verschiedene Gründe.
Erstens versuchen viele Betroffene, ihre Symptome selbst zu „medikamentieren“, indem sie zum Beispiel Alkohol, Nikotin oder Cannabis einsetzen.
Zweitens setzen viele potenzielle Suchtmittel (auch Videospiele, Smartphonenutzung etc.) schnelles Dopamin frei und genau daran fehlt es bei ADHS.
Und drittens gehört zu den Symptomen von ADHS auch eine schlechtere Impulskontrolle, was den Griff zu Suchtmitteln noch wahrscheinlicher macht.
Übrigens: Obwohl ADHS-Medikamente unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, machen sie nach aktuellem Stand der Wissenschaft nicht süchtig. Ihre Einstufung als Betäubungsmittel hat vielmehr damit zu tun, dass Nicht-Betroffene diese Medikamente missbrauchen können.
Superkraft
„ADHS ist meine Superkraft“, das hört man immer wieder. Ich stehe dieser Sichtweise sehr kritisch gegenüber, weil sie die vielen Probleme negiert, die das Leben mit ADHS bis an den Grad einer Behinderung erschweren können.
Trotzdem geht ADHS auch mit vielen wundervollen Eigenschaften einher, zum Beispiel mit Spontaneität, Begeisterungsfähigkeit, Problemlösungskompetenzen, schneller Auffassungsgabe, hohem Gerechtigkeitssinn, der Fähigkeit zum Um-die-Ecke-Denken und beeindruckenden Fähigkeiten in Krisensituationen. ADHS ist ein Gesamtpaket, das die Betroffenen und ihre ganze Persönlichkeit prägt, im Positiven wie im Negativen.
Symptome
Die Kernsymptome von ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Was so einfach klingt, kann sich in unzähligen verschiedenen Verhaltensweisen und Problemen äußern, die sich auf alle Lebensbereiche auswirken können. Hier habe ich das ein wenig genauer beschrieben.
Unruhe
Unruhe, Nervosität, Anspannung, das ist für viele ADHS-Betroffene ein ständiges Grundgefühl. Was viele nicht wissen: Innere Unruhe ist eine Ausprägung von Hyperaktivität und gehört damit zu den zentralen Symptomen bei ADHS.
Was auf den ersten Blick harmlos klingt, kann echt unangenehme Folgen haben. Schließlich wissen wir alle, dass Stress das Risiko unzähliger Erkrankungen und Beschwerden erhöht. Vielen ADHSler*innen fällt es extrem schwer, zu entspannen. Und das ist wahnsinnig anstrengend.
Ursachen
Die Ursachen von ADHS sind multifaktoriell. Das bedeutet: Es können mehrere Faktoren eine Rolle spielen, aber man weiß es noch nicht so genau.
Sicher ist, dass die Vererbung eine wichtige Rolle spielt. ADHS kommt in vielen Familien gehäuft vor. Es gibt aber auch noch andere Dinge, die zur Entstehung und Ausprägung beitragen könnten. Dazu gehören zum Beispiel Komplikationen während der Schwangerschaft und Geburt, ein instabiles Elternhaus oder häufige Kritik und Bestrafung in der Kindheit. (Quelle)
Vorurteile über ADHS
„ADHS gibt es gar nicht.“ – „Du siehst aber nicht aus, als hättest du ADHS.“ – „Das verwächst sich.“ – „Früher gab es das doch auch nicht.“
Die Liste an Vorurteilen, Irrtümern und falschen Vorstellungen rund um ADHS ist nahezu endlos. Und leider sind selbst Ärzt*innen oder andere Fachpersonen nicht immer frei davon. Hier habe ich schon einmal ausführlich über einige der verbreitetsten Irrtümer rund um ADHS geschrieben. Und hier habe ich 16 davon in ein Bullshit-Bingo verpackt, natürlich mit den passenden Erklärungen, damit du in Zukunft besser auf falsche Aussagen reagieren kannst.
Wartemodus
Warten ist grauenvoll. Fast nicht zu ertragen. Und besonders schlimm ist es, wenn unklar ist, wie lange das Warten dauert. Eines der schlimmsten Dinge, die man einer Person mit ADHS antun kann, ist die Aussage: „Ich rufe im Lauf des Tages zurück.“ Okay, aber wann? In 10 Minuten oder 6 Stunden? Solche Zeitangaben binden die Aufmerksamkeit, unter Umständen so stark, dass kaum noch etwas anderes möglich ist. Wenn man in den ADHS-Wartemodus gerät, bedeutet das im einfachsten Fall Stress und im schlimmsten Fall völligen Stillstand im Sinne einer ADHS-Paralyse. Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich sehr ungerne einzelne Termine mitten am Tag habe. Ein Termin um 14 Uhr kann, wenn es blöd läuft, dafür sorgen, dass ich weder vorher noch nachher etwas gebacken kriege.
Zeitblindheit
Zeitblindheit ist ein weiteres verbreitetes Phänomen bei ADHS. Ein Beispiel: Ich bin nun 45 Jahre alt und habe immer noch nicht verinnerlicht, dass es Zeit kostet, das Haus zu verlassen, zum Auto zu gehen und loszufahren. Oder dass man auch Zeit einplanen muss, um zu parken und am Zielort anzukommen. Solche Dinge muss ich mir immer wieder bewusst klarmachen, damit ich Termine pünktlich und ohne Stress erreiche. (Das mit der Pünktlichkeit gelingt inzwischen fast immer, „ohne Stress“ aber fast nie.) Ein absurd-interessantes Detail zur Zeitblindheit ist der Zeitoptimismus.
Zeitoptimismus
Zeitoptimismus ist ein Detail der weit verbreiteten Zeitblindheit bei ADHS. Gemeint ist, dass man entgegen jeder Vernunft immer noch glaubt, man könne Dinge in kürzerer Zeit schaffen als alle anderen. Wenn zum Beispiel das Navi anzeigt, dass ich wahrscheinlich 10 Minuten später als geplant am Ziel ankommen werde, dann denke ich oft, dass ich die paar Minuten sicher noch aufholen werde. Was nie, aber auch wirklich nie der Fall ist.
Zeitoptimismus kommt aber auch zum Tragen, wenn wir auf den allerletzten Drücker mit einer Aufgabe anfangen. Und da ist er manchmal gar nicht so verkehrt. Während andere klar und deutlich sehen, dass diese Aufgabe in der vorgegebenen Zeit unmöglich zu schaffen ist, heben wir manchmal doch noch die Zeitachse aus den Angeln und machen es irgendwie möglich.
Zappel-Phillipp
Wer meint, ADHS habe es früher nicht gegeben, der möge sich mal den Zappel-Phillipp aus dem grausamsten Kinderbuch der deutschen Geschichte anschauen: dem Struwwelpeter. Der Zappelphillipp bleibt nicht still am Tisch sitzen und kippelt so lange mit dem Stuhl, bis die Tischdecke samt der kompletten Mahlzeit vom Tisch fällt. „Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“, ihr erinnert euch vielleicht.
Auch heute noch ist der Zappel-Phillipp ein Sinnbild des hyperaktiven ADHS-Typs. Manchmal wird ADHS sogar als Zappel-Phillipp-Syndrom bezeichnet. Oh, und übrigens ist auch der unaufmerksame ADHS-Typ (früher ADS) im Struwwelpeter vertreten: in Gestalt von Hans Guck-in-die-Luft.
