Gaby hat keinen eigenen Blog, aber sie hat trotzdem einen wunderbaren Artikel für meine Blogparade rund um ADHS geschrieben. Ich freue mich sehr, ihn hier als Gastartikel veröffentlichen zu dürfen!
Das ist Gabys ganz persönlicher Text über ihre ADHS-Diagnose, ihre Depressionen und weitere wichtige Dinge ihrer Lebensgeschichte:
ADHS hat viele Gesichter – und das hier ist meins
Ich wache auf. Noch bevor ich die Augen richtig geöffnet habe, ist es da: das Geräuschchaos.
Die „Gedanken-Stadt“ lebt. Und in meinem Kopf lebt sie doppelt so laut.
Autos rauschen in einem endlosen Strom vorbei, irgendwo hupt jemand. Eine Sirene schneidet grell in meine Gedanken, während im Innenhof ein Hund anschlägt. Und dann – Trompeten. Aus dem Nichts. Ich weiß nicht, woher sie kommen, aber sie sind da. Einfach da.
So beginnt mein Tag. Und nein, das ist keine Ausnahme. Das ist mein Alltag.
Mein Kopf fühlt sich oft an wie eine überfüllte Großstadt im Berufsverkehr.
Oder wie ein Browser mit 18 Tabs – 7 davon spielen gleichzeitig Musik, 2 erzählen mir, was ich heute alles falsch gemacht habe, 4 haben irgendwelche großartigen Ideen, was man denn noch alles basteln oder nähen könnte, einer erinnert sich an eine ganz witzige Situation, die ich vor ein paar Monaten hatte, und keiner lässt sich pausieren.
Willkommen in meinem Leben mit ADHS
Diese vier Buchstaben – ADHS – waren für mich lange nur ein Begriff. Irgendetwas, das man in der Schule schon einmal gehört hat. Diese paar Kinder, die nie stillsitzen konnten. Die laut waren. Die „auffällig“ waren.
Aber ich?
Ich war einfach … anders?
Laut, ja. Verträumt. Emotional. „Irgendwie seltsam“, sagten manche. Oder „zu sensibel“.
Aber niemand – wirklich niemand – hat je gesagt: „Vielleicht ist es ADHS.“
Heute bin ich 33. Bald 34.
Und ich habe endlich verstanden, warum mein Gehirn anders tickt. Warum ich so oft gefragt habe: Was stimmt eigentlich nicht mit mir?
„Alle“ anderen in meinem Alter wirkten so erwachsen. So organisiert. Aufgeräumt.
Und ich? Ich kämpfte. Mit dem Chaos in mir. Und dem um mich herum.
Seit diesem Jahr habe ich meine Diagnose: ADHS. Und plötzlich … ergibt so vieles Sinn.
Den ersten wirklichen Verdacht in diese Richtung gab es schon im Jahr 2024 Eine Freundin mit (ebenfalls spät) diagnostizierter ADHS, die zu mir während eines Deeptalks meinte: „Na meine Liebe, so wie du das beschreibst, klingt das schon ganz schön nach ADHS … Weißte, Zebras erkennen Zebras.“
Daraufhin dachte ich mir, ich gehe das Thema endlich mal wirklich an. Es folgten erste Gespräche und Untersuchungen.
Also saß ich, ehrlicherweise Monate später erst, bei einem Psychiater/Neurologen. Aber damals stand etwas anderes im Vordergrund: meine Depression.
Ich war am Boden. Richtig am Boden.
Es fühlte sich an, als würde mein Leben in sich zusammenfallen – Stück für Stück.
Nichts funktionierte. Ich fand keinen Halt. Keine Struktur. Keine Kraft. Jede Hilfs- und Rettungsleine, die mir zugeworfen wurde, glitt mir einfach aus den Händen.
Und dann sagte mein Psychiater etwas, das sich tief in mein Herz eingebrannt hat: „Vielleicht leiden Sie seit über 25 Jahren „nur“ an einer unbehandelten ADHS … oder vielleicht haben Sie das bescheidene Los gezogen und kämpfen mit beidem. Nachdem Sie hier vor mir sitzen, wohl bis jetzt erfolgreich.“
Ich weiß, vielleicht finden manche diese Worte unpassend. Aber für mich waren sie ein Weckruf. Ich hatte diese, Entschuldigung, Scheiße bis jetzt überlebt. Ich war stärker als das!
Das war ein Moment voller Klarheit.
Wir haben an diesem Tag lange gesprochen. (Sorry an alle, die danach noch einen Termin bei ihm hatten!)
Er sagte: „Es ist schon schwer genug, mit einer rezidivierenden schweren depressiven Störung zu leben. Nie zu wissen, wann der nächste Schub kommt. Aber die ADHS – unbehandelt?“
Die würde sich zusätzlich in den Weg stellen. Würde mir den Ausblick auf einen Weg aus dem schwarzen Chaos erschweren. Und das würde sehr viel Zeit, Medikamente und Geduld in Anspruch nehmen, mich da wieder „auf Spur“ zu bekommen.
Wir müssten erst meine aktuelle schwere depressive Phase in den Griff bekommen, um die ADHS weiter anzugehen. Also herrschte im ersten Moment gefühlt Stillstand.
Ich musste das erstmal sacken lassen. Und das habe ich dann auch.
Ein paar Tage lang habe ich einfach nur funktioniert. Die Medikamente gegen meine Depression genommen. Nicht viel hinterfragt. Ich war müde. Einfach nur müde.
Schritt für Schritt durch das Chaos
Ich habe eine Therapie begonnen. Und natürlich typisch ADHS: Schon der Start war ein kleines Abenteuer.
Über die 116117 bekam ich erstaunlich schnell einen Termin für ein Erstgespräch bei einer Psychologin – direkt am nächsten Tag!
Na, dreimal dürft ihr raten, wer vor lauter Großstadtlärm im Kopf vergessen hat, den Termin zu bestätigen? DING DING DING … Richtig. Ich.
Aber: Meine Therapeutin hatte trotzdem Zeit für mich. Und seitdem sehen wir uns regelmäßig.
Und das war nur der Anfang.
Ich habe begonnen, aktiv Dinge zu ändern. Nicht alles auf einmal, sondern in kleinen Schritten.
Mit meiner Tablettendose als stille Begleiterin habe ich jeden Tag meine Medikamente genommen. Brav. Routiniert. Und ja, sie haben geholfen. Die Antidepressiva brachten mir ein kleines Stück Licht zurück.
Ich konnte wieder lachen.
Wieder an meinen Hobbys Freude empfinden.
Wieder aufstehen.
Wieder atmen.
Aber das Chaos in meinem Kopf? Das war noch da. Also ging es weiter.
Wenn ich das innere Chaos nicht loswerden konnte, dann musste ich wenigstens das äußere Chaos zähmen.
Zusammen mit meinem Partner habe ich angefangen, unsere Wohnung zu verändern. Weniger Reize. Weniger visuelle Unruhe. Geschlossene Schränke statt offener Regale. Klare Flächen. Weniger Dinge im Blick – mehr Raum im Kopf.
Ich muss ehrlich sagen: Anfangs fiel mir das unglaublich schwer. Ich liebte meine offenen Regale. Bunte Bücher, Erinnerungen, Spiele, Kleinigkeiten mit Geschichten. Alles, was mich ausmachte, stand da. Sichtbar. Greifbar. Ich dachte, ich brauche das. Ich hatte panische Angst davor, die Sachen „verschwinden“ zu sehen. Würde „ich“ auch verschwinden?
Aber nach dem großen Ausmisten, Weggeben und dem Möbel-Umbau … wurde es ruhig. Nicht still, aber ruhiger. Und ich habe gespürt: Das verändert wirklich etwas. Und das, trotz aller Angst, definitiv zum Positiven.
Ich begann, meinen Alltag zu strukturieren. Mit Apps. Mit Listen. Mit klaren Plänen.
Mein Partner und ich haben zusammen einen Wochenplan erstellt. Wer macht was, wann wie. Wir unterstützen uns gegenseitig. Tag für Tag.
Und ich bin so unendlich dankbar, ihn an meiner Seite zu haben!
Das Schöne ist: Mein Umfeld hat sich, für mich, extrem verändert und doch bin das ICH … sind das WIR … Wir fühlen uns beide inzwischen so viel wohler daheim. Ich könnte glatt zum Stubenhocker mutieren.
Dann kam etwa fünf Monate später der zweite Termin bei meinem Psychiater. Ein wichtiger Check-in: Wie wirken die Medikamente? Müssen wir etwas anpassen? Vertrage ich alles gut?
Ich hatte den Termin rot im Kalender. Ich dachte jeden Tag daran. Ich habe mich regelrecht darauf gefreut.
Und als der Tag endlich kam? Fuhr ich nach der Arbeit direkt … nach Hause. Einfach so. Ich habe den Termin vergessen.
Trotz Erinnerungen.
Trotz Kalender.
Trotz aller Vorbereitung.
Ich weiß, wie das klingt. Und trotzdem: Genau so ist ADHS.
Vom Dunkelgrau ins Petrol
Eine Woche später, beim Abendessen mit Freunden, fiel es mir plötzlich wieder ein. Der Termin beim Psychiater. Vergessen. Verpasst.
Ich rief am nächsten Tag mit einem sehr kleinen, reumütigen Stimmchen in der Praxis an und hatte Glück: Im Juni war wieder ein Termin frei.
Gestern war es dann so weit.
Und: Mir geht es besser. Richtig viel besser.
Die Depression ist (aktuell) im Griff. Ich wache auf und sehe wieder eine Zukunft vor mir, die nicht grau, sondern farbenfroh ist. Hoffnungsvoll. Voller Möglichkeiten.
Ich habe neue Aufgaben in meiner Arbeit übernommen und sie für mich so durchstrukturiert, wie ich damit zurecht komme. Kollegen, die eine ähnliche Tätigkeit haben, schlagen tatsächlich teilweise die Hände über dem Kopf zusammen. Wie ich denn da den Überblick behalten könne? Woher ich jene und welche Info wisse?
Ganz einfach, in meinem Kopf ergibt das alles extrem großen Sinn. Und die Leute, denen ich direkt zuarbeite, sind hellauf begeistert. Also kann es nicht zu falsch sein.
Ich habe in der Zwischenzeit in Absprache mit meinem Hausarzt und meiner Psychologin die Tablettendosis deutlich erhöht. Langsam und vorsichtig und ich dachte, ich vertrage sie ganz gut. Bis auf ziemlich starke Müdigkeit. Aber hey, das war ein Preis, den ich sehr zu zahlen bereit war und bin.
Aber ganz ohne Stolpersteine geht es wohl nicht.
Bei einer Ultraschalluntersuchung gab es ein paar Auffälligkeiten. Nichts Dramatisches, aber etwas, das nun mein Hausarzt abklären muss. Und erst, wenn internistisch alles grünes Licht bekommt, darf ich zusätzlich zu meinen Antidepressiva auch (endlich) mit den ADHS-Medikamenten beginnen.
Ich bin gespannt.
Was wird sich verändern? Was wird leichter? Was vielleicht auch nicht?
Ich weiß: Es wird auch wieder Tage geben, die sich schwer anfühlen. Momente, in denen alles zu viel ist. Phasen, in denen sich die Welt für mich dunkelgrau oder sogar schwarz färbt. Aber gerade jetzt? Gerade jetzt ist meine Welt leuchtend petrol.
Die Geräusche, die wirren Gedanken, das schnelle Vergessen, meine Sprunghaftigkeit – sie sind da. Aber sie sind händelbar.
Sie gehören zu mir. Und ich lerne, damit zu leben – nicht gegen sie, sondern mit ihnen.
Ich schreibe diesen Text nicht, um Mitleid zu bekommen
Ich schreibe ihn, weil ich mir gewünscht hätte, so einen Text früher zu lesen.
Weil ich mir gewünscht hätte zu verstehen, dass ich nicht einfach nur „faul“, „chaotisch“ oder „zu sensibel“ bin.
Sondern dass mein Gehirn anders funktioniert.
Dass es im Multitasking fantastisch sein kann.
Dass es in Krisensituationen blitzschnell schaltet.
Dass es auf die wildesten, kreativsten Ideen kommt (vielleicht mit den Medis dann zukünftig nicht mehr um 2 Uhr nachts? Bitte?).
Dass es Chaos verbreitet – m-anchmal ohne es zu merken.
Und dass es okay ist, ich zu sein.
ADHS hat viele Gesichter.
Das hier ist meines.
… Und ich lerne gerade, es anzunehmen, im Spiegel zu betrachten, mich darin zu erkennen und lieb zu haben.
Gaby